Suesse Hoelle
sechs Jahren nicht mehr so unumstößlich galt, hatte sie sich dennoch daran gehalten, weil die Angst, verletzt zu werden, zu tief saß.
»Meine Mutter ist bei einem Brand umgekommen, als ich drei Jahre alt war«, sagte sie. »Ein Blitz hatte unser Haus getroffen. Ich erinnere mich eigentlich gar nicht mehr daran bis auf einen lauten Knall, der so viel lauter war, als ein Mensch es sich vorstellen kann; selbst die Luft schien sich aufzulösen. Das weiße Licht verschlang alles andere. Ein Nachbar hat mich aus dem Haus geholt, ich hatte nur geringe Brandverletzungen. Meine Mutter war in dem Teil des Hauses, in den der Blitz eingeschlagen hatte.«
»Dann machen Gewitter dich sicher nervös ?« hakte er nach. »Das sollten sie eigentlich, aber das ist nicht der Fall. Ich hatte nie Angst vor Gewittern, nicht einmal unmittelbar danach.« Sie hatte ihre Waffel aufgegessen, deshalb legte sie die Gabel beiseite und griff nach der Kaffeetasse. »Blitzschläge können eigenartige Sachen auslösen. Dr. Ewell hat die Theorie aufgestellt, dass das große Vorhandensein an Elektrizität irgendwie meine mentalen Fähigkeiten verändert oder verstärkt und mich empfindsamer gemacht hat gegenüber der elektrischen Energie, die andere Menschen ausstrahlen. Ich war offensichtlich vor diesem Ereignis völlig normal, aber danach wurde ich schwierig und habe mich sehr leicht aufgeregt.«
»Vielleicht lag das daran, dass du deine Mutter verloren hattest?«
»Kann sein. Wer weiß das schon? Ich konnte die Fähigkeit auch schon gehabt haben, doch da war ich noch nicht alt genug, um mich verständlich zu machen. Nach allem, was man mir erzählt hat, war meine Mutter ein ruhiger, ernster Mensch, vielleicht hat also ihre Gegenwart mich beruhigt. Auf jeden Fall hatte mein Vater eine Menge Schwierigkeiten bei meiner Erziehung. Und je frustrierter und ärgerlicher er wurde, desto mehr hat das auf mich abgefärbt. Ich hatte keine Ahnung, wie ich seine Enttäuschung abwehren konnte. Wir waren beide sehr unglückliche Menschen.«
Sie hielt einen Augenblick nachdenklich inne. »Ich war die Verrückte in unserer Gegend. Als ich in die Schule kam, habe ich keine Freundschaften geschlossen, aber das war in meinen Augen ganz in Ordnung so, denn ich hätte sowieso nicht damit umgehen können. Dann fand ich irgendwann einmal ein Kleinkind, das von zu Hause weggelaufen war, und es stand in allen Zeitungen. Dr. Ewell kam, um mit meinem Vater zu sprechen, und danach habe ich das Institut aufgesucht, um mich testen zu lassen. Die Ruhe und der Frieden dort haben mir gefallen, also bin ich geblieben. Mein Vater und ich waren beide erleichtert.«
»Wo ist er jetzt?« erkundigte sich Dane.
»Er ist gestorben. Eine Zeitlang hat er mich regelmäßig besucht, aber es war für uns beide immer sehr anstrengend. Seine Besuche wurden seltener und seltener. Als ich vierzehn war, hat er wieder geheiratet und ist nach South Dakota gezogen. Ich habe seine Frau nur einmal getroffen. Sie war eigentlich ganz nett, aber in meiner Gegenwart fühlte sie sich unsicher.
Sie hatte zwei Kinder aus einer ersten Ehe, aber sie und Dad haben keine eigenen Kinder mehr bekommen. Er ist an einem Schlaganfall gestorben, als ich zwanzig war.«
»Und du hast keine anderen Verwandten?«
»Ein paar Tanten und Onkel und auch noch einige Cousins, denen ich nie begegnet bin.«
Sie war also im Grunde immer allein gewesen, seit ihrer frühesten Kindheit. Niemand hatte mit ihr geschmust, sie in den Arm genommen. Es hatte keine Abende gegeben, an denen Freundinnen bei ihr übernachteten und mit ihr zusammen kicherten. Er fragte sich, ob sie je Kind gewesen war, ob sie überhaupt gespielt hatte. Wahrscheinlich nicht. Marlie hatte so etwas außergewöhnlich Erwachsenes an sich, eine mentale Reife, die weit über ihr Alter hinausging. Doch trotz ihrer ungewöhnlichen Kindheit und ihres notwendigerweise sehr ernsten Lebensstils war sie erstaunlich normal. Ihre milde Exzentrik konnte man mit ihrer Erziehung erklären, doch sie besaß keine verrückten Eigenheiten oder Ticks.
... wenn man außer acht ließ, dass sie die Gedanken eines Massenmörders nachvollziehen konnte.
Er warf einen Blick auf die Uhr und trank dann seine Tasse aus. »Ich muss gehen, mein Schatz. Das war großartig. Was gibt es denn zum Abendessen?«
Marlie blieb nichts anderes übrig in dem Ansturm von Belustigung, Hoffnung und absolutem Schrecken über seine offensichtliche Absicht, bei ihr zu bleiben, als zu lachen. »Du hast
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