Süsse Küsse und unschickliche Geheimnisse
fiel auf, dass er seine Worte sehr sorgfältig wählte. Weder log er, noch enthüllte er seine wahren Absichten.
„Das setzt allerdings voraus, Sie seien ein Mann von Ehre.“
„Habe ich irgendetwas getan, das Sie daran zweifeln lässt?“, erwiderte er, gab ihren Arm frei und trat einen Schritt zurück. „Sie sprechen von den Freiheiten, die ich mir gestern bei Ihnen herausnahm, als wir allein waren.“
Nein, darauf hatte sie sich nicht bezogen, doch sie sagte nichts.
„Ich kann mich nur damit entschuldigen, dass ich übermannt wurde von meiner Erleichterung, Sie gefunden und der Gefahr entzogen zu haben. Anna, ich bereue den Kuss nicht, aber ich bitte Sie um Vergebung, sollte ich Sie damit gekränkt haben.“
„Ich wollte nicht, dass Sie sich bei mir entschuldigen. Jedes Vergehen gegen die Schicklichkeit war genauso auch meine Schuld.“
„Da wir also nun zu dem Schluss gekommen sind, dass meine Küsse weder Sie noch mich verletzt haben, darf ich Ihnen noch etwas zum gestrigen Tag sagen?“
Anna nickte. „Natürlich dürfen Sie. Ich verdanke Ihnen mein Leben. Bitte, äußern Sie frei, was Sie auf dem Herzen haben.“
„Ich …“, begann er und stockte, als suche er nach den richtigen Worten. Annas Herz setzte einen Schlag aus. „Es gibt so vieles, was ich Ihnen gern sagen würde, wenn ich könnte, Anna. Allerdings hängen zu viele Menschen von meiner Verschwiegenheit ab, und zu diesen gehören auch Sie. Ich muss nach London zurückkehren, aber es gibt sehr viele Gründe, die mich hier halten würden, wenn ich mein eigener Herr wäre.“
„Mr. Archer, einige wenige Küsse sollten nicht der Grund für eine solche Betroffenheit sein. Ich erwartete keine Versprechungen von Ihnen, falls das Ihre Sorge ist.“
„Sie verstehen nicht, Anna“, sagte er und nahm ihre Hand. „Ich bin nur verstört, weil ich spüre, dass es zwischen uns eine Beziehung gibt, die auf tiefen Gefühlen basiert, die ich aber nicht zulassen darf. Obwohl ich selbst mir nichts lieber wünschen würde. Zu viel steht auf dem Spiel.“
Seine Worte erinnerten sie an ihre eigenen Gedanken, als sie zum ersten Mal von seiner Verbindung mit Lord Treybourne erfuhr. Wollte er ihr sagen, dass auch er etwas für sie empfand? Aber war es Mr. Archer oder Lord Treybourne, der jetzt sprach?
„Ich kam, Mr. Goodfellow zu finden, und fand Sie. Und ich bedaure es von ganzem Herzen, Sie nicht näher kennenlernen zu können.“
„Anna!“, rief Tante Euphemia.
Ihr Gespräch war notgedrungen zu Ende, und Anna hatte so wenig herausgefunden. Nur eine Frage musste sie ihm noch stellen. Behutsam legte sie ihm die Hand auf den Arm und sah ihm in die Augen.
„Ich wünschte auch, wir hätten mehr Zeit füreinander, Sir, aber ich muss Sie noch etwas fragen. Was werden Sie Lord Treybourne mitteilen? Was werden Sie ihm im Hinblick auf Goodfellows Artikel raten?“
Er lachte, und sie musste lächeln. Was für ein männliches, tiefes Lachen und doch gleichzeitig so ungezwungen jungenhaft.
„Wie es scheint, läuft am Ende alles auf diese verflixten Artikel hinaus. Nun gut, ich bin der Meinung, dass Sie es wunderbar bewältigt haben, Mr. Goodfellow meine Besorgnis deutlich zu machen. Er war offenbar bereit, das Hauptaugenmerk auf die wichtigen Themen zu richten und unsere kleine Fehde zu vernachlässigen.“
„Also wird Lord Treybournes Antwort genauso ausgewogen ausfallen?“
„Das hoffe ich.“
Der unsichere Ton seiner Stimme ließ Anna stutzen. Schrieb er denn seine Artikel nicht selbst? Und so fragte sie: „Hat denn Lord Treybourne nicht die Kontrolle über seine eigenen Worte? Sie erwähnten einmal die Menschen um ihn herum.“
„Die Politik ist kaum die Angelegenheit eines Einzelnen, Anna. Es sind immer sehr viele darin verwickelt, und einige wenige beherrschen die anderen. Lord Treybourne gehört nicht zu jenen wenigen, wie so mancher von ihm annimmt.“
Anna sah ihn fassungslos an. „Ist das nicht etwas unloyal gegenüber dem Mann, in dessen Diensten Sie stehen?“
„Lord Treybourne wäre der Erste, der es eingestehen würde. Er ist zwar ein Teil des Ganzen, vielleicht sogar der Fackelträger, aber nicht der Führer. Sein Vater, der Marquess of Dursby, leitet in Wirklichkeit die Belange der Tories. Er ist der Mann, den Nathaniel und Goodfellow fürchten oder zumindest respektieren sollten. Denn er ist der wahre Drahtzieher der Partei.“
„Warum sagen Sie mir das alles? Sie müssen doch wissen, dass Nathaniel und auch Goodfellow
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