Sueße Prophezeiung
...
»Nein!« Wie von selbst entschlüpfte das Wort ihren Lippen und hallte in der Stille wider. Aus eigenem Antrieb bewegten sich ihre Füße nach hinten, einen Schritt nach dem anderen, bis sie das Polster der Liege in ihren Kniekehlen spürte.
Das fahle Licht des Nebels tauchte alles in ein wässriges Grau, das sein Gesicht verbarg, sodass sie nicht mehr darin lesen konnte. Ein kühler Luftzug streifte eisig ihre Schultern. Die Dunkelheit wartete kauernd in den Winkeln ihres Blickfeldes auf sie, wo sie sie nicht ergreifen konnte. Dunkelheit, alles verschlingende, unendliche Finsternis erwartete sie, erdrückte sie, füllte ihre Atemwege und ihre Lunge, bis sie nicht mehr zu atmen vermochte ...
Er bewegte sich. Sie sah, wie sich seine schattenhafte Gestalt gegen den hellen Marmor der Kaminumrahmung abzeichnete. Die Silhouette eines Mannes näherte sich. Sie war so viel größer als sie!
»Nein«, sagte sie wieder, aber der Klang ihrer Stimme war nicht mehr so fest wie zuvor. In einer instinktiven Geste der Verteidigung hob sie ihre Hände.
»Kämpft nicht gegen mich«, stieß er stumpf hervor. »Tut es nicht!«
»Bleibt mir fern«, warnte sie ihn. Ihre Stimme klang rau. »Ich werde nicht dahin zurückgehen.«
»Für einen Tag ...«
... und eine Nacht im Besenschrank . ..
»Nein ...«
Die Luft in diesem Raum war zu dünn. Es gelang ihr nicht, genügend Atem für ihre Lungen zu holen. Das Zittern erschwerte es ihr, ihn zu sehen und zu erkennen, was er als Nächstes tun würde. Er sprach wieder. Seine Stimme klang immer noch schonungslos.
»Ihr habt keine Wahl, und tut, was ich Euch sage! Ich weiß, was am besten ist.«
Du bleibst da drin ...
Die Kobolde warteten auf sie. Sie konnte sie hören; sogar die Chimäre drehte die Ohren lauschend in die Dunkelheit, wo sie schon auf sie im Besenschrank warteten. Jedes Mal wenn sie dort eingesperrt wurde, hockten sie bereits da, mit ihren Äxten und Messern und dem Feuer, und Ona wurde stets aufs Neue ermordet. Scharlachrotes Blut spritzte gegen die Rinde der Birke, und Avalon stand mehr oder weniger daneben.
Plötzlich und flink bewegte sich der Mann wieder. Seine dunkle Gestalt war fast nicht zu sehen. Aber die Chimäre warnte sie. Sie führte ihre Hände für sie, um ihn abzuwehren, sich zu ducken und hinter ihm wieder aufzutauchen. Sie schlug nach ihm und spürte, wie er sie losließ. Ihr einziger Gedanke war Flucht, Flucht, Flucht!
Doch er schien zu wissen, was sie vorhatte, und mit grausamem Geschick benutzte er seine andere Hand, um sie um die Taille zu fassen, sich in die gleiche Richtung neigend, wie sie es tat, und so die Falle zu schließen. Die Furcht machte sie ungeschickt. Die Hand, nach der sie geschlagen hatte, kam wieder hoch, fand ihren Arm und schlang ihn eng um sie, wodurch sie praktisch gefangen war. Dann stieß er seinen Fuß zwischen ihre Beine und hob sie hoch, sodass sie keinen festen Halt mehr auf dem Boden hatte.
»Ich lerne aus meinen Fehlern, meine Liebe«, raunte er ihr ins Ohr. »Ihr habt den Kindern diesen Trick gezeigt, und ich habe gut aufgepasst.«
Ihr Schrei drückte Furcht und Ohnmacht aus. Sie konnte nicht sehen, wer hinter ihr stand. Es konnte jeder sein, Ian oder Hanoch oder einer der Kobolde, die sie jetzt verschlingen wollten ...
Obwohl er sie immer noch fest an sich drückte, änderte sich etwas an der Haltung ihres Bezwingers, der sich jetzt ihres abgehackten Keuchens, des unkontrollierten Bebens, das ihren Körper erschütterte, bewusst wurde.
»Avalon?« Die Stimme war leiser und sehr menschlich, Marcus’ Stimme. »Was fehlt dir?«
An ihn gefesselt und seiner Gnade ausgeliefert, biss sie sich auf die Lippen, um das Schluchzen zu unterdrücken, das aus ihr hervorbrechen wollte. Sie konnte es nicht ertragen – sie hätte weglaufen sollen, um sich den Widrigkeiten des Lebens zu stellen; aber sie konnte nicht zurück in diesen Raum! Sie konnte diesen winzigen Raum, das schmale Fenster, die erdrückende Dunkelheit nicht ertragen. Das Warten.
»Sprich mit mir«, sagte er, und es war kein Befehl, sondern eine Bitte. Sein Griff lockerte sich allmählich, bis sie merkte, dass ihre Füße wieder fest auf dem Blumenteppich standen und seine Arme ihr nicht mehr wehtaten. Sie spürte seinen warmen Atem an ihrem Hals, und das war irgendwie beruhigend. »Sprich mit mir«, forderte er sie noch einmal leise auf.
»Ich kann nicht dahin zurückgehen.« Das Schluchzen steckte ihr nach wie vor in der Kehle und ließ ihre Stimme
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