Sueße Prophezeiung
vergessen.
Wenn man ihr damals nicht die Miniatur gezeigt hätte, würde sie jetzt annehmen, dass das Bild ein Trick sei, um sie von der Kincardine-Legende zu überzeugen. Die Gemahlin des Lairds besaß Avalons Antlitz. Das waren ihre Augen von dieser ungewöhnlichen Farbe, ihre silberblonden Haare – auf dem Bild hingen sie offen herab und wurden nur von einem zierlichen Goldreif über der Stirn gehalten – und ihre schwarzen Wimpern. Selbst ihre eigenen bogenförmig geschwungenen Lippen konnte man erkennen.
Und doch war es das Antlitz ihrer Urahnin; sie wusste nicht, wie viele Generationen sie von ihr trennten.
Eine Seuche ein paar Jahre nach dem Tod ihrer Vorfahrin, so hatte man zumindest Avalon erzählt, hatte dem Fluch Unvergänglichkeit beschieden. Dieser Seuche fielen nur die Kinder zum Opfer, die verzweifelten Eltern blieben allein zurück. Viele verließen die Gegend und brachten die wenigen überlebenden Kinder in sicherere Gefilde, um auf diese Weise die Zukunft des Clans zu gewährleisten. Die meisten kamen schließlich wieder, nachdem man davon ausging, dass die Bedrohung vorüber war. Doch einige kehrten nie zurück und ließen sich an anderen Orten nieder. Die Linie dieser Leute führte schließlich zu Avalons Mutter und zu Avalon selbst.
Marcus las ihre Gedanken oder schien sie zumindest zu erraten. »Letztendlich seid Ihr eine Tochter des Clans. Ich glaube, dass – ich muss kurz nachdenken – unsere Urururgroßmütter Schwestern waren. Das würde bedeuten, dass wir ...«
»Cousin und Cousine sind«, führte sie seinen Satz ohne Umschweife zu Ende. »Für meinen Geschmack habe ich zu viele Cousins.«
Sie stand auf und gab ihm das Porträt zurück. Er bedachte sie mit einem kalten Lächeln.
»Ich glaube, das ist Schicksal«, meinte er. »Aber Ihr habt mir noch nicht geantwortet. Wie fühlt Ihr Euch?«
Auf nackten Sohlen entfernte sie sich über den Steinfußboden von ihm. Erst jetzt fiel ihr wieder ein, dass sie nur ein Nachthemd anhatte; doch es kümmerte sie nicht besonders. In die Wand war ein schmales Fenster eingelassen, an das sie trat und in einen wolkenlosen Tag hinausblickte.
»Am liebsten möchte ich tausend Jahre schlafen«, teilte sie dem Himmel mit.
»Meiner Ansicht nach müssen zwei Tage reichen«, sagte Marcus hinter ihr.
»Zwei Tage?«
»Ja. Ihr habt Euch nicht gerührt. Wir haben Euch schlafen lassen. Zweifellos brauchtet Ihr die Ruhe.«
Ein Habicht kreiste am Himmel und verschwand dann aus dem Gesichtsfeld des Fensters.
»Ich habe Euch das Leben gerettet«, sagte Avalon, während sie weiterhin aus dem Fenster schaute. »Die Ehre gebietet, dass Ihr mir eine Gunst gewährt.«
»Was für eine Gunst?«, fragte er.
»Lasst mich frei, Mylord!«
Seine Stimme klang sachlich. »Die Gunst, die Ihr fordert, übersteigt meine Möglichkeiten, Mylady.«
»Ich habe Euch das Leben gerettet!« Ihre Hände klammerten sich an den Fensterrahmen. Der Himmel glich einem saphirblauen Gewölbe. Er schien sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken, aber doch gerade außerhalb ihrer Reichweite zu liegen.
»Trotzdem werde ich Euch nicht freilassen. So läuft das halt im Krieg.«
Avalon lockerte ihren Griff. »Ich verstehe«, murmelte sie schließlich. »Na gut, ich besitze drei Landgüter und den größten Teil der Einnahmen von Trayleigh. Ich besitze Ländereien, die fast bis an Eure grenzen.«
Sie merkte, dass er sich in Bewegung setzte und sich ihr näherte. Doch er machte keinen Versuch, sie zu berühren.
»Es ist genug da, um Eure Gelüste zu befriedigen, denke ich. Ländereien und Vermögen. Ich überlasse Euch alles. Persönlich werde ich den König bitten, Euch alles zu geben, und werde jedes Dokument unterzeichnen, das Ihr mir vorlegt. Tut so, als sei es ein Lösegeld – wenn Ihr wollt.« Sie drehte sich zu ihm um, und die Sonne strahlte sie von hinten an. »Aber lasst mich gehen!«
Er stand dichter, als sie gedacht hatte. Nicht einmal eine Armeslänge war er von ihr entfernt. Sie konnte seine Gedanken nicht lesen. Da bestand eine Barriere, und in seinem Blick lag nur kühle Bedächtigkeit.
»Nicht genug«, befand er.
»Getreide, Vieh, Pachteinnahmen. Schöne Landsitze. Alles gehört Euch, Euren Leuten!«
»Nicht genug.«
»Das ist alles, was ich habe«, hauchte sie.
»Nein.«
Jetzt streckte er die Hand aus, um sie zu berühren. Marcus griff nur nach einer Strähne ihres Haars und hielt sie ins Sonnenlicht, während sich die Flechten um seine Finger ringelten. Er
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