Sueße Prophezeiung
sowie Männer, die die Heiligkeit und Macht gewonnen haben, um ihnen dabei zu helfen.«
Mit finsterem Blick schaute Marcus auf die Papiere. Jedes einzelne Wort war eine einzige scharfe Bedrohung, was auch in der Absicht des Sprechers gelegen hatte.
»Und trotzdem lässt du ihr immer noch Zeit«, schloss Balthazar. Seine Stimme klang nach wie vor fragend.
»Ich muss ...«, Marcus verstummte. Wie sollte er in Worte fassen, was er empfand? Er wollte Avalons Vertrauen gewinnen, ihr beweisen, dass er ihrer wert war. Dabei musste er alles vermeiden, was sie an seinen Vater erinnerte: Kraft, Gewalt, die alles zermalmende Beherrschung.
Er erkannte, dass er sie aus Liebe gewinnen wollte.
Bal hatte ihn schweigend beobachtet und las seine Gedanken mit der etwas unheimlichen Art, die er an sich hatte.
»Um eine Frau zu umwerben«, sprach Balthazar, »bedarf es der tapfersten Männer.«
Marcus hob die Hände an die Augen, rieb sie und stieß dann einen weiteren Seufzer aus.
Die Köchin klopfte an. Wie war noch gleich ihr Name? Tara? Tela? Tegan.
»Laird«, sagte die Köchin. »Die Braut hat die Wirtschaftskammer verlassen. Sie möchte sich den Südturm anschauen, hat sie gesagt.«
»Danke.«
Die Papiere würden warten müssen. Sie lagen da schon so lange, einige von ihnen waren bereits Jahre alt – was, zum Teufel, hatte Hanoch die ganze Zeit getrieben? – Jetzt konnten sie ruhig noch einen Tag länger warten. Oder eine Woche. Marcus schob seinen Stuhl zurück.
»Wohin gehst du?«, fragte Bal anzüglich.
»Südturm«, gab Marcus Auskunft. »Ich glaube, von dort aus gibt es einen schönen Rundblick.«
Der Südturm bedurfte keiner größeren Reparaturen, wie Marcus sich erinnerte. Die Stufen waren alle in Ordnung, die Pfeiler immer noch intakt. Vielleicht hatte Hanoch für seinen Erhalt gesorgt, weil er in Richtung des alten Feindes England lag. Marcus hatte seines Vaters System beibehalten, die Wachtposten im Turm, die ständig den Horizont kontrollierten, regelmäßig ablösen zu lassen.
Aber der Wächter war nicht auf dem Posten, als Marcus oben anlangte.
Er trat auf den Wehrgang und stellte fest, dass es – wie auf Befehl – nicht mehr regnete und dass jetzt ein ganzer Schwarm von Sternen durch die restlichen Wolken funkelte. Trotz der untergehenden Sonne, die blaue, rosa- und lavendelfarbene Streifen an den westlichen Saum der Erde warf, glitzerten sie bereits am Firmament. Diese himmlischen Diamanten umgaben Lady Avalon d’Farouche von allen Seiten, während sie sich mit einer Gruppe von Männern und Jungen auf dem nassen Wehrgang unterhielt. Langsam begann die Schwärze des Nachthimmels herabzusinken.
Er musste stehen bleiben, um sie zu bewundern, konnte einfach nicht anders. Wenn Trygve wirklich jemals einen Engel in seinen Visionen gesehen hatte, konnte dieser bestimmt nicht herrlicher als Avalon in diesem Moment gewesen sein, nahm Marcus an – in diesem Moment, als ihr elfenbeinfarbenes Haar das Sternenlicht einfing, ihre mandelförmigen Augen schwarz umrahmt waren und bei der Frage eines der Jungen ein leichtes Lächeln über ihr Antlitz huschte.
Nie zuvor hatte er sie so entspannt, so sorglos gesehen. Während sie sprach, beschrieb sie mit ihrer Hand, die sich nicht in der Schlinge befand, einen Bogen durch die kühle Nachtluft, der in seiner Eleganz zugleich Weiblichkeit und Stärke ausdrückte. Sie wiederholte die Bewegung, diesmal jedoch langsamer, wie um etwas zu demonstrieren. Ein anderer Junge sagte etwas zu ihr; sie lachte und die ganze Schar stimmte mit ein. Fasziniert kam Marcus näher.
»Nein«, sagte sie gerade, »richtig geflohen ist nie jemand vor mir, glaube ich, weder im Krieg noch sonst wo.«
Sie brach ab, bevor sie ihn sah, hob soeben den dem Kind zugeneigten Kopf. Die bewundernden Augen des Jungen wandten sich in seine Richtung.
Bis in alle Ewigkeit könnte er sie so anschauen. Er wollte in ihre violetten oder heidefarbenen, oder welche Farbe auch immer ihre Augen hatten, eintauchen und für immer glücklich dort in ihrer Welt lebend verharren, während der Glanz Avalons ihn umgab.
Aber als sie ihn schließlich entdeckte, verschwand ihr Lächeln und ihre Haltung wurde wieder wachsam. Der Glücksmoment erlosch.
Fürchte mich nicht, flehte Marcus stumm, und er hätte schwören können, ihren Vater zu sehen.
Sie hatte ihn gehört. Er wusste, dass es so war.
Mittlerweile hatten alle seine Anwesenheit bemerkt. Die Wachtposten trennten sich von der Gruppe, die Jungen schauten
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