Süße Rache: Roman (German Edition)
gewöhnliche Menschen definierten und abgrenzten; vielleicht hatte er seit jeher diesen Abstand zu sich selbst und seinen Mitmenschen gehalten.
Und doch hatte er mehr als einmal ihre Nähe gesucht. An ihrem ersten gemeinsamen Nachmittag hatte er erkannt, wie verängstigt sie war, ihr durch Zärtlichkeit Sicherheit vermittelt und sie durch Lust verführt. Er hatte sie geliebt, obwohl sie das damals beide nicht erkannt hatten. Nach ihrem Unfall war er bei ihr geblieben, bis sie gestorben war, und hatte über sie gewacht, bis die Rettungswagen eintrafen.
Sie träumte nie von ihrem Unfall und rief sich ihre vagen Erinnerungen ans Sterben kaum je ins Gedächtnis. Erst kam dieses unglaubliche Licht, irgendwie rein und voller Leben, dann war sie an diesem wundervollen Ort gelandet. Ihre Erinnerung an beides war so detailreich, dass ihr sogar Düfte und Tastempfindungen im Gedächtnis geblieben waren, aber was zwischen diesen beiden Ereignissen passiert war, blieb schemenhaft und verschwommen. Vielleicht weil sie ihm jetzt gegenübersaß, in sein Gesicht sah und sich zu erinnern versuchte, stand ihr die Szene unvermittelt so klar vor Augen, als würde sie sich gerade eben abspielen. In ihrem Geist hörte sie ihn flüstern:
»O Gott, meine Süße« und sah, wie er über ihr Haar strich. Sie beobachtete ihn dabei, wie er mit ihr zusammen wartete. Irgendwie war es ihr nicht möglich, ihren eigenen Körper anzusehen, so als würde er vor ihrem Blick abgeschirmt, dafür sah sie seinen umso klarer. Sie konnte die Angst erkennen, die er zu unterdrücken versuchte, den Schmerz, den er sich nicht eingestehen wollte.
Als würde sich noch einmal ein Pfahl durch ihre Brust bohren, erkannte sie, warum er in der Zeitung nach dem Bericht über ihren Unfall gesucht hatte. Er hatte herausfinden wollen, wo sie beerdigt worden war, damit er Blumen auf ihr Grab legen konnte.
»Andie.« Er fasste über den Tisch, nahm ihre Hand und hielt sie in seiner rauen Handfläche. »Wo bist du?«
Bis ins Mark erschüttert zwang sie sich, in die Gegenwart zurückzukehren und die unerwünschten Erinnerungen ruhen zu lassen, doch sie nahm dabei ein neues Verständnis des Mannes ihr gegenüber mit, dieses Mannes, der die Distanz zwischen ihnen zu überbrücken versuchte, der sich absichtlich vor ihr entblößte, indem er jede Frage beantwortete, die sie ihm stellte.
Sie brachte es nicht fertig, ihm noch mehr Fragen zu stellen, deshalb beendeten sie schweigend ihr Mahl. Er beobachtete sie wieder mit regloser, leerer Miene, allerdings hatte er auch davor nicht eben ausdrucksstark gewirkt. Er hatte eine stille Heiterkeit gezeigt, und ab und zu loderte eine glühende Flamme in seinen Augen auf, wenn sich sein Blick auf ihren Mund senkte, aber abgesehen davon hatte er nicht gezeigt, was er dachte oder empfand.
Er hatte sie nach Hause gefahren und sie sogar auf die Veranda begleitet, aber dort hatte er einen kaum sichtbaren Abstand gewahrt, der ihr verriet, dass er nicht mit ins Haus kommen würde, selbst wenn sie ihn aufforderte.
Stattdessen ging er hinüber zur zweiten Doppelhaushälfte und klopfte dort energisch an die Haustür. Was machte er da? Sie beobachtete ihn mit nachdenklich zusammengezogenen Brauen. Fünfzehn Sekunden später klopfte er noch einmal. Niemand öffnete die Tür.
»Was machst du da?«
»Ich will mich überzeugen, dass niemand zu Hause ist. Der Wagen ist weg, trotzdem könnte einer von beiden daheim sein.« An diesem Satz erkannte sie, dass er das Haus genau genug beobachtet hatte, um zu wissen, dass nebenan ein Pärchen wohnte, aber nicht genau genug, um zu wissen, dass beide in der Spätschicht arbeiteten und daher normalerweise mittags das Haus verließen.
»Warum? Was kümmert dich das?«
»Menschen sind neugierig. Sie lauschen, wenn sie es nicht tun sollten.«
»Und?«
»Und das hier geht sie nichts an.«
Neugierig und völlig ahnungslos beobachtete sie, wie er sein Portemonnaie zückte und eine Plastikkarte herauszog. »Falls du Schwierigkeiten hast, an dein Geld zu kommen«, sagte er und reichte ihr die Karte.
Es war ihr alter Führerschein.
Sie starrte auf das Kärtchen, auf das Bild darauf, und griff mit zittrigen Fingern danach. Sie hatte gedacht, dass die alte Drea nicht mehr existierte, dass sie tot war, selbst wenn sie nicht begraben war, aber da war sie wieder: die blonde Lockenmähne, das dicke Make-up, die leicht abwesende Miene. Mit diesem Menschen hatte sie nichts mehr zu tun. Die meisten Menschen müssten
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