Süsse Sehnsucht Tod
sich für einen Moment die Welt hier oben vor meinen Augen, und die unheimliche Wolke schien noch tiefer gesackt zu sein. Ich hatte Mühe, meinen Atem unter Kontrolle zu halten und auch die Körperfunktionen zu kontrollieren.
Dann schaute ich wieder nach vorn.
Das Erschrecken erwischte mich wie ein Lanzenstoß. Plötzlich war mein Sieg in eine Niederlage verwandelt worden, denn Iris Cramer gab nicht auf.
Sie war nicht tot, nur verletzt, und deshalb konnte sie sich auch bewegen. Die süße Sehnsucht Tod mußte wie ein gewaltiger Trieb in ihr stecken, der sich durch nichts stoppen ließ.
Sie wollte ihren Tod.
Sie wollte sich über das Dach in die Tiefe fallen lassen.
Und deshalb kroch sie darauf zu. Verletzt, wie sie war. Iris konnte das linke Bein nicht mehr einsetzen und schleifte es hinter sich her. Das aber machte sie zwangsläufig langsam, und so konnte ich aufholen.
Jetzt mußte ich einfach schneller sein. Wenn ich es nicht schaffte, Iris zu retten, konnte ich meinen Job an den Nagel hängen. Wegen Unfähigkeit.
Der Dachrand war durch eine Mauer abgesichert. Nicht hoch. Sie reichte einem Menschen nur bis zu den Knien und hätte wohl niemanden davon abgehalten, sich in die Tiefe zu stürzen. Es war mehr eine psychologische Barriere. Auch für Iris Cramer.
Bevor ich sie packen und zurückreißen konnte, hatte sie sich schon aufgerichtet und nach dem Rand der Mauer gegriffen. Iris hatte ihre Mühe. Sie quälte sich hoch. Zum erstenmal, seit ich das Dach betreten hatte, hörte ich ihre Stimme. Sie schrie ihre Wut oder ihren Schmerz hinaus, denn so, wie sich Iris es vorgestellt hatte, klappte es nicht. Das linke Bein machte nicht mit. Sie konnte damit nicht auftreten.
»Laß es sein, Iris!« brüllte ich sie an.
Sie drehte den Kopf, denn diesmal war meine Stimme stärker als das Heulen des Windes gewesen. Für einen kurzen Moment starrten wir uns an. Ich war mit ihr so lange zusammengewesen, um sie ein wenig kennenzulernen, aber die Frau, die ich jetzt sah, das war nicht mehr die Iris Cramer, die ich kennengelernt hatte. Sie sah einfach anders aus, gezeichnet. Das Gesicht war nur mehr eine Fratze. Ihre Augen standen weit offen, in ihnen malten sich die Gefühle ab. Ich glaubte, darin Wut und Schmerz schimmern zu sehen.
»Nein!« schrie sie laut und streckte mir gleichzeitig ihren rechten Arm entgegen, denn mit dem linken stemmte sie sich ab. »Bleib, wo du bist, Sinclair!«
Ich ging weiter.
Sie ließ es zu, daß ich zwei Schritte näher kam. Erst dann hatte sie ihre Überraschung verdaut, und da wußte sie auch, was ich vorhatte. Ob sie mir einen Fluch entgegenschickte oder sich selbst ausschimpfte, ich konnte es nicht sagen. Jedenfalls rollte sie sich herum und sah zu, daß sie auf den Rand der Mauer zu liegen kam. Mit dem angeschossenen Bein hatte sie so ihre Schwierigkeiten, das mußte sie nachziehen, und dabei half sie mit der Hand.
Ich lief. Ich war ziemlich fertig, aber in mir hatte sich der Wille festgesetzt, diese Frau zu retten. Nur war es fraglich, ob ich es noch schaffte, denn Iris beeilte sich ebenfalls. Wenn sie sich rollte und über die andere Kante kippte, war mein Bemühen umsonst gewesen.
Sie bewegte sich bereits zu dieser Seite hin. Alles war jetzt noch eine Frage von Sekunden, und ich nahm die Dinge überdeutlich wahr. Sie kamen mir vor wie zeitverzögert, wobei ich nicht wußte, wer von uns beiden schneller war.
Ich warf mich nach vorn und streckte mich. Meine Arme fielen nach unten, und meine Hände krallten sich nicht im Mauerwerk fest. Sie erwischten Iris Cramer, die sich schon zur anderen Seite gedreht hatte, damit sie in die Tiefe rauschen konnte.
Eisern hielt ich sie fest. Und ich zerrte sie sogar zurück!
Für einen Moment war sie geschockt. Sie lag auf dem Rücken und schaute mich mit einem Blick an, über den ich nur den Kopf schütteln konnte. Haß, Staunen und Enttäuschung mischten sich darin. Sie war beeinflußt, aber nicht so stark, daß sie die Realität vergessen hätte und nun wußte, wo sie gelandet war.
Ich zog sie zurück.
Iris bewegte sich dabei selbst nicht. Sie half nicht mit.
Sie ließ sich von mir über den schmutzigen Dachboden schleifen, und ich hatte ebenfalls mit mir zu kämpfen, um nicht schlappzumachen. Als ich sie weit genug vom Dachrand entfernt wußte, ließ ich sie los.
Iris Cramer blieb liegen. Ich wollte auch nicht mehr stehen.
Spiralengleich sackte ich in die Knie. Mein Herz schlug wahnsinnig schnell. Ich konnte das Zittern meiner
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