Suesse Versuchung
du?
Edward nickte.
Glaubst du, ich habe keine Albträume davon? Glaubst du, mir war das gleichgültig?
Und denkst du wirklich, verflucht nochmal, dass es nicht Stunden gegeben hat, in
denen ich mir gewünscht hätte, an seiner Stelle zu sein, weil ich das Gefühl hatte, ihn
im Stich gelassen zu haben?! Er wandte den Blick ab, versuchte sich zu fassen.
Weißt du, wann ich das alles wirklich vergesse? Das Morden? Die Toten? Die
Ertrunkenen, Erschlagenen, Verstümmelten des Krieges und am Ende noch der brutale
Mord an James? Dein Anblick, als ich dich gefunden habe, weil sie dachten, du
gehörtest zu uns und hättest Informationen, und sie dich verhörten?
Er atmete tief ein und sah auf seine Hände, die die Zügel so fest gepackt hatten, dass
die Knöchel weiß hervortraten. Die wenigen Momente, in denen ich wirklich alles
vergesse, sind die mit Melinda. Mit einer Frau, die irgendeinem Kerl gehört, der sie
nicht einmal zu schätzen weiß und nur Wutanfälle bekommt, weil er sein Eigentum
und seinen Ruf gefährdet sieht. Und ich muss zurückstehen und zusehen, wie er sie
mir wieder wegnimmt! Dabei würde ich ihm lieber in einem Duell den Schädel mit
einer Kugel durchbohren. So sieht es aus! Und jetzt sage mir, ob du mir vertraust oder
nicht.
Es war einige Atemzüge lang still, dann trieb Edward sein Pferd an. Erkläre mir
deinen Plan, Jonathan. Ich bin schon gespannt darauf.
20. K APITEL
Die Kerze war noch um ein weiteres Viertel heruntergebrannt, und Sophie hatte lange
Zeit versucht sich selbst Mut zuzusprechen. Das wäre fast gut gegangen, hätte sie nicht
eine Gestalt entdeckt, die in einer Nische saß, sich im Kerzenlicht bewegte und Sophie
eine Todesangst einjagte. Erst als sie längere Zeit wie ein hypnotisiertes Kaninchen
hinstarrte, erkannte sie, dass es sich lediglich um ein in den Fels gehauenes Bildnis
handelte. Die Figur stand oder saß, die Hände waren vor dem Körper verschränkt und
in den weiten Ärmeln verborgen. Sophie versuchte sich einzureden, dass sie eine
Heiligenfigur darstellte, auch wenn das Gesicht eher an einen kahlen Totenkopf
erinnerte, der im flackernden Licht das fleischlose Gesicht verzerrte, zu ihr
herübernickte und sich schüttelte.
Sophie schloss die Augen, um nicht ständig hinüberstarren zu müssen, riss sie aber
beim leisesten Geräusch wieder auf. Die Kälte in der Höhle kroch von allen Seiten in
ihre Glieder und ließ sie zittern. Sie hatte mehrmals versucht auf die Beine zu
kommen, aber die Stricke um ihre Knöchel waren zu eng, und sie war, schon halb im
Stehen, wieder umgefallen und hatte sich schmerzhaft die Schulter gestoßen. Nun
arbeitete sie daran, die Stricke um die Handgelenke zu lösen. Sie zerrte daran herum,
verbog sich die Finger, um sie zu erreichen, aber jede Mühe war vergeblich. Diese
Gauner verstanden ihr Handwerk.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, in der sie ebenso sinnlos wie
verzweifelt versucht hatte, sich loszumachen. Der Einfall, einfach auf der Seite liegend
und wie eine Schlange den Gang entlangzurobben, war ihr ebenfalls gekommen. Auch
auf dem Hintern loszurutschen, wäre eine Möglichkeit gewesen. Aber sie wusste nicht,
welcher der Gänge dann tatsächlich ins Freie führte, und bis sie vielleicht den richtigen
gefunden hätte, wäre nicht nur der Rock in Fetzen, sondern auch die Baumwollhose,
die Sophie beim Reiten darunter trug. Und am Ende wäre sie wieder von den Gaunern
geschnappt worden.
Erschöpft von unzähligen Versuchen blieb sie eine Zeit lang liegen und versuchte
wieder zu Atem zu kommen. Ihre Finger waren kalt, ihre Füße eisig, die Nasenspitze
halb abgefroren. Zum Glück hatte sie ihren festen, schottischen Reitrock an, dessen
Wollstoff ein wenig schützte. Ein Schnupfen war jetzt allerdings ohnehin das
Geringste ihrer Probleme.
Die Kerze wäre bei der Suche nach einem Ausgang dienlich gewesen, aber die stand
so weit oben, dass sie nur mit der ausgestreckten Hand erreichbar gewesen wäre, und
daran hinderten sie die Fesseln.
Die Idee aufzustehen, nach der Kerze zu springen und zu probieren, sie mit den
Zähnen zu fassen, verwarf Sophie so schnell sie ihr gekommen war. Das Ergebnis
wären wahrscheinlich lichterloh brennende Haare gewesen. Und auf so eine Fackel
konnte sie wahrlich verzichten. Also blieb nur die Möglichkeit, weiter tapfer an den
Handfesseln zu arbeiten. Links von ihr war ein scharfer Stein, an dem sie nun schon
etliche
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