Suesser Als Blut
schaute ihn mir genauer an. Man hatte ihn ausgezogen und nackt an den Boden gekettet, alle viere von sich gestreckt. Sein Glamour , mit dem er seine wahre Gestalt menschlicher hatte erscheinen lassen, war erschöpft oder wurde von den silbernen Handschellen blockiert, mit denen man seine Gliedmaßen fixiert hatte. Er wirkte nun kräftiger, muskulöser, und sein Unterleib war mit einem weichen, seidigen Fell bedeckt, das sich vom Bauch über die Beine bis zu seinen harten Hufen zog.
Ich hob den Kopf und kroch noch ein wenig näher. Seine Hörner waren zu kleinen Stummeln verkümmert, die kaum noch aus seinen wirren Haaren hervorschauten. Da war überall Blut, sein Blut. Ich musste kurz die Augen schließen, um mich nicht von dem Duft überwältigen zu lassen. Mein Magen verkrampfte sich hungrig, aber ich kämpfte den Drang nieder. Tiefe Kratzer verunzierten seine mächtige Brust, darunter zahlreiche Bisswunden. Jetzt wusste ich, mit welchem Blutsauger sich Toni verbündet hatte: mit Rio.
Er wandte mir seinen Kopf zu. Ich erschrak.
Sein Gesicht wirkte spitz, die Knochen traten hervor, es sah fast aus wie ein Totenschädel. Am schlimmsten aber waren seine Augen: graue, trostlose Augen, der grüne Glanz war daraus verschwunden.
»Du musst dich ausziehen, Gen«, sagte er müde.
»Was?« Wie konnte er jetzt an so etwas denken!
»Ich hab die ganze Zeit darauf gewartet, dass du wieder zu Bewusstsein kommst. Ich weiß eine Möglichkeit, wie du entkommen kannst. Du musst eine Blutpforte benutzen.« Seine Augen ruhten kurz auf mir, dann wandte er sie ab, als könne er es nicht ertragen, dass ich ihn in diesem Zustand sah. »Aber du musst nackt hindurchgehen, sonst klappt es nicht.«
Ich wusste, was eine Blutpforte ist. War sogar schon mal
durch eine hindurchgegangen. Mit einem anderen magischen Wesen. Sobald man den Zauber aktiviert hatte, kam man damit direkt zu der Person, mit der man durch das Ritual verbunden war.
Ich runzelte die Stirn, setzte mich auf meine Fersen. »Aber das erfordert eine gewisse Vorbereitung. So einfach geht das nicht.«
»Du gehst zu Helen«, befahl er. Seine Stimme zitterte, als er ihren Namen sagte. »Sie wird dir helfen.«
Helen? Ach ja, Detective Inspector Crane. »Helen und ich, wir haben das Ritual durchgeführt, unser Blut ausgetauscht. Das war, als wir über den Besen sprangen, aber dann …« Er bäumte sich auf, das Gesicht schmerzhaft verzerrt, und konnte nicht weitersprechen.
Er war mit ihr über den Besen gesprungen? Finn und Inspector Christbaum? Wann war das denn passiert? Und was meinte er mit »aber dann«? Aber dann haben wir uns wieder getrennt? Sie waren doch nicht etwa noch zusammen? Unmöglich . Ich spürte, wie etwas in mir zerbrach, etwas, von dem ich gar nicht gewusst hatte, dass es da war. Kein Wunder, dass die neue Chefin der Magiekommission mich nicht ausstehen konnte. Aber jetzt war keine Zeit für Selbstmitleid. Jetzt hieß es erst mal, hier rauszukommen.
»Gute Idee«, zwitscherte ich. »Ich werde den Zauber knacken , mit dem du gefesselt bist.« Ich zog mein T-Shirt aus. »Und dann werde ich diesen Zauber absorbieren, mit dem sie dich aussaugen, und wir verschwinden durch die Blutpforte.« Ich zog mir den rechten Schuh aus.
»Gen, du kannst den Zauber nicht knacken .« Er wandte mir langsam den Kopf zu, und ein Lächeln umspielte seine Lippen, das mich beinahe an den alten Finn erinnerte. »Ich hänge an jedem Körperteil. Würde nur ungern eins oder mehrere davon verlieren.«
Ich zog mir auch den linken Schuh aus und musste dann
pausieren, weil mir fürchterlich schwindlig wurde. »Na dann absorbiere ich den eben auch.«
»Aber die Handschellen kannst du nicht absorbieren, und der Zauber würde dich umhauen. Oder schlimmer.«
Ich machte den Reißverschluss meiner Jeans auf. »Was soll das, Finn? Ist doch egal!« Ich zog mir die Hose aus. »Du kannst mich doch tragen? Oder zumindest mitschleifen, oder?«
»Du spinnst, Gen.« Er seufzte. »Du musst zu Helen gehen und Hilfe holen. Allein. Mich kriegst du nicht frei, sei vernünftig.«
»Ich gehe aber nicht ohne dich.«
»Der Blutsauger wird bald wieder hier sein, und je näher sie bei mir ist, desto mehr kann sie mir nehmen.« Er ballte die Fäuste. »Du musst fliehen, so schnell du kannst.«
Ich hätte schreien können vor Wut und Frust. Und Angst. Aber das nützte uns auch nichts. Ich holte tief Luft und sagte: »Also gut. Sag mir, wie ich’s anstellen soll.«
»Wir führen das Ritual durch, dann
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