Süßer die Glocken (German Edition)
das, was sie auf dem Kopf trug. Eine weißblonde Lockenperücke und darüber ein mit Draht befestigter Ring, der mit goldenem Lametta umwickelt war. Ah. Engel 07. Ich schmunzelte. Noch so eine arme Kreatur, der man einen blöden Gelegenheitsjob in der Vorweihnachtszeit aufgenötigt hatte. Was für eine Aufmachung … Aber immerhin fiel sie auf, das musste man den Ideengebern lassen. Und wenigstens rannte man sie nicht einfach um, so wie mich. Im Gegenteil, die Leute schienen ihr Platz zu machen und nicht wenige sahen ihr bewundernd hinterher. Im nächsten Moment geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Die Menge lichtete sich etwas, sodass ich sie ganz sehen konnte, und sie drehte sich um. Sie trug eine bestickte weiße Jacke und einen für einen Engel wirklich unverschämt kurzen weißen Rock, der um sie herum abstand wie ein Teller. Dazu helle Stiefel. Irgendwie erinnerte ihre Aufmachung mich an diese Funkenmariechen aus dem Rheinland. Sie trug einen Korb am Arm, aus dem heraus sie Schokoladenweihnachtsmänner und Flyer für einen großen Handyanbieter an die Leute verteilte. Jemand sagte etwas zu ihr, sie drehte den Kopf und ichkonnte ihr Gesicht sehen. Sie lachte, schob sich mit der Hand eine Strähne Perückenhaar aus dem Gesicht. Ihre Augen glitzerten und ihre Wangen waren von der Kälte gerötet. Den perfekten Engel hatten sie da ausgesucht, dachte ich bei mir und dann sah sie auf und unsere Blicke kreuzten sich. Sie lächelte und hob die Hand als würde sie sagen: »Hallo Nikolaus, alter Kollege. Haben Sie dich auch bei der Kälte vor die Tür gejagt?« Ich lächelte zurück und vergaß völlig, dass das unter dem weißen Flusenbart eigentlich keine Rolle spielte, weil man es ohnehin nicht sah.
Sie ging weiter, gab Weihnachtsmänner und Zettel nach rechts und links und ich pirschte mich näher an sie heran, so gut es bei dem Gedränge eben ging. Herrjeh, es war einfach viel zu voll. Am liebsten hätte ich die Menschen mit beiden Armen beiseitegeschoben! Immer wieder sah sie sich um, lächelte mir zu, schien mich zu einem Spielchen herauszufordern, doch ich kam ihr keinen Meter näher. Dann, hinter einem Kinderkarussell, das aufdringlich »Jingle Bells« in die Massen schmetterte, verschwand sie. Ich stolperte, trat beinah in den Saum meines roten Polyestersamtmantels, lief um das Karussell herum, aber sie war weg. »Mist«, murmelte ich unter meinem juckenden Bart und rang nach Atem. Enttäuscht wollte ich mich wieder an meinen Platz stellen, wandte mich um und: da stand sie.
Ihren Korb hatte sie abgestellt und sie lehnte an einem der Schaustellerwagen. In der Hand hielt sie einen Schokoweihnachtsmann. Sie grinste und sah mich an aus ihren winterglitzernden Augen. Dann schälte sie den Weihnachtsmann aus seinem Folienmäntelchen. Ich bewegte mich nicht von der Stelle und sah ihr zu. Sie knüllte die Folie zusammen. Dann hob sie den Schokomann an ihre Lippen, glitt mit der Zunge einmal von unten hinauf bis zu seinem Kopf. Dabei ließ sie mich nicht aus den Augen und ich spürte, wie sich in meiner Körpermitte etwas zu regen begann. Ganz schön frech für einen Engel, dachte ich und dann biss sie zu.Sie biss dem armen Schokomann den Kopf ab und verzehrte ihn genüsslich. Unwillkürlich zuckte ich zusammen und fuhr mir mit einer Hand an die Kehle. Sie lachte, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand zwischen den Wagen. Dieses Biest, dachte ich und eilte ihr nach. Sie lief über die Straße, eine kleine Gasse hinunter, ich sah gerade noch ihr wippendes Röckchen um die Ecke verschwinden. Hinterher. Ich kam um die Ecke, aber ich sah sie nicht. Ich hörte nur das Klacken ihrer Stiefelabsätze. Sie wollte hinunter zum Fluss. Hier, diese Treppe musste sie genommen haben. Jetzt hörte ich nichts mehr. Still war es und kalt und feucht. Das Wasser des Flusses schwappte glucksend gegen die Steine und der Lärm vom Weihnachtsmarkt drang nur noch gedämpft herüber. Dann sah ich es. Wenige Meter vor mir führte der Weg in eine Unterführung hinein. Ich konnte sie nicht erkennen, aber ich konnte ihren Atem sehen. Kleine Wölkchen, in hektischer Folge ausgestoßen und sich im dunstigen Dämmerlicht verlierend. Leise schlich ich mich an, sprang hervor und da stand sie, an die Mauer gelehnt, lachte und schob sich, noch immer atemlos vom Laufen, den Rest vom Schokoweihnachtsmann in den Mund. Sie hob die Hand, um sich die Finger abzulecken, aber ich war mit zwei Schritten bei ihr, umfasste ihr Handgelenk, führte ihre kalten
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