Süßer König Jesus (German Edition)
Dalai-Lama«, sagte sie und lehnte ihren Kopf, Augen geschlossen, ans Fenster.
Ich setzte mich bequemer hin und schloss ebenfalls die Augen. Ich dachte an meinen Job – wenigstens war ich nicht bei der Arbeit. Ich hatte schon kündigen wollen, obwohl ich erst anderthalb Monate dabei war. Ich musste mindestens sechs Mal am Tag riesige Blöcke Eis vom Gefrierschrank im hinteren Teil des Ladens zur Eismaschine schleppen. Die restliche Zeit stand ich dann am Fenster, nahm Bestellungen auf und spachtelte für verwöhnte Kinder und ihre jungen Mütter Eis in Tüten. Ich konnte diese Mütter nicht ausstehen: Nur weil sie kleine Kinder hatten, glaubten sie, man halte ihnen alle Türen auf und jeder würde alles für sie tun. Allerdings mochte ich den Jungen, der dort arbeitete, ich sah zu, wie er Glühbirnen auswechselte und Kisten herumschob, und ich mochte die Lady mit den künstlichen blauen Linsen, die Nestle’s Schokolade schmolz und in Hohlformen goss. Ihre Augen hatten einen unnatürlichen Ton, ein dunkelbrauner Kranz umschloss ihre Pupillen, das verlieh ihr etwas Außerirdisches.
Nach einer Weile brachten meine Gedanken nichts Sinnvolles mehr zusammen, aber anstatt mich einfach in den Schlaf hinübergleiten zu lassen, stellte ich fest, dass meine Gedanken ihren Geist aufgaben, und freute mich so wahnsinnig über dieses Zeichen meiner Fähigkeit, einzuschlafen, dass ich im Nu wieder hellwach war.
Als ich wieder hinausschaute, war da ziemlich viel Verkehr. Zwei Spuren teilten sich in drei, dann in vier, dann in so viele Spuren, wie ich nie zuvor gesehen hatte. Ich stieß Elise an, doch sie schlief oder tat so als ob, und ich ließ sie in Ruhe. Es tat gut, wieder mal Autos zu sehen, gut, Starbucks und Taco Bells und Tankstellen, in denen die Leute nicht wohnten. In der Ferne tauchte eine Bergkette auf, die Sekunde für Sekunde näher rückte, und der Himmel war klar, abgesehen von einigen Wolken, lang und schmal wie die Kondensstreifen eines Flugzeugs.
»Wo sind wir?«, fragte ich.
»El Paso, und Ciudad Juarez liegt genau links von dir«, sagte mein Vater. »Hier gibt’s bestimmt ’ne Menge Reifengeschäfte.«
»Kinder, schaut mal, eine Barackenstadt«, sagte Elise und setzte sich auf. Sie googelte Ciudad Juarez auf ihrem Handy, und nach dem allgemeinen Eintrag bei Wikipedia war das Erste, was erschien »Frauen-Selbstmorde in Ciudad Juarez«. Sie begann, laut vorzulesen, und ich hielt mir die Ohren zu, weil ich nicht hören wollte, wie Frauen als Sklavinnen verkauft und an Bushaltestellen umgebracht wurden. Unsere Cousine war ermordet, der Täter nie gefasst worden, und er würde auch nie gefasst werden. Sie war drogenabhängig gewesen und wahrscheinlich auch auf den Strich gegangen, und niemand hatte sich wirklich bemüht, ihren Mörder zu finden. Nicht wie die Detektive in den Fernsehsendungen, die achtundvierzig Stunden nonstop arbeiteten und sich mit den Familien der Opfer anfreundeten. Und mit diesen Frauen war es bestimmt auch so: Sie waren arm; sie hätten nicht um drei Uhr früh auf der Straße sein sollen. Sie waren überflüssig.
Die Leute sagten immer, die Welt sei klein, aber nur, um sie weniger grauenhaft erscheinen zu lassen. Die Welt war riesengroß. Wie riesengroß, das war mir bis jetzt nicht bewusst gewesen.
Mein Vater nahm die Ausfahrt und folgte der Parallelstraße. Nicht lange, und wir entdeckten ein Reifengeschäft, die Art Laden, die man übersieht, wenn man nicht danach sucht. Er parkte, und wir gingen rein und setzten uns in einen verglasten Wartebereich mit TV -Ecke, veralteten Zeitschriften und kostenlosem Kaffee. Ein Wartebereich wie in jeder Autowerkstatt mit Waschanlage weltweit, und ich dachte an die vielen Samstagvormittage, die ich mit meinem Vater bei Personal Touch verbracht hatte. Er las immer Zeitung, während ich zusah, wie unser Wagen von Männern gewaschen und gesaugt wurde, und hinterher gingen wir immer zu Krispy Kreme, wo ich eine Tüte Donut Holes ganz für mich allein bekam. Damals machte ich mir weder über Kalorien noch über Fettgehalt Gedanken. Ich aß einfach und genoss, was ich aß, und stieg auf keine Waage, um zu sehen, wie mein Gewicht sich in die Höhe schlich.
In weniger als einer halben Stunde waren die Reste des alten Reifens ab, ein neuer drauf und wir wieder auf der Straße. Mein Vater flog geradezu durch El Paso und ließ in den Kurven den Motor aufheulen. Einst hatte er davon geträumt, Rennfahrer zu werden. Das hatte er mir an jenem Abend
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