Sumerki - Daemmerung Roman
ermittelnde Major Pjotr Nabattschikow als vermisst gemeldet wurde. Einer Mitteilung des Moskauer GUWD zufolge gibt es deutliche Hinweise, dass er sich möglicherweise in Lebensgefahr befindet. Bisher ist jedoch unklar, ob das Verschwinden des Majors mit dem
jüngsten von ihm geleiteten Ermittlungsverfahren in Zusammenhang steht.«
Ich tastete mit den Händen nach einem Stuhl und ließ, ohne zu fragen, etwas Wasser aus dem Hahn in ein Glas laufen. Was für ein Dummschwätzer war ich doch. Im Brustton der Überzeugung hatte ich verneint, irgendetwas von Sektierern zu wissen … Der arme Kerl …
Der Nachbar erkundigte sich besorgt: »Geht es Ihnen nicht gut, Dmitri Alexejewitsch?«
Ich stürzte das Wasser hinunter und schenkte mir gleich noch einmal ein. »Na ja, kein Wunder bei den Nachrichten … Ich wollte mir ja eigentlich die Schreibmaschine …«
»Was wollen Sie denn eigentlich tippen?«, fragte er, während er in der Abstellkammer herumkramte.
»Mein Testament«, versuchte ich zu scherzen, doch Sergej Andrejewitsch nickte nur verständnisvoll.
Die Handschrift sah so ähnlich aus wie die Nabattschikows. Sie war mir aufgefallen, als er sich während unsres Gesprächs Notizen in sein Heft gemacht hatte. Mit einiger Erleichterung schloss ich daraus, dass dem Major offenbar nichts Schlimmes passiert war.
Die Nachricht war unter meiner Tür hindurchgeschoben worden. Vermutlich war der Bote - möglicherweise Nabattschikow selbst - genau in dem Moment vorbeigekommen, als ich die Nachbarn besuchte. Niemand hatte auf sein Klopfen reagiert, also hatte er diesen Zettel hinterlassen: »Wenn Sie wiederbekommen wollen, was Ihnen abgenommen wurde, kommen Sie heute zwei Stunden nach Mitternacht zum Gogol-Boulevard.«
Mir fiel sofort das beschlagnahmte Kapitel ein, dessen Übersetzung ich so bald wie möglich vorlegen musste. Schließlich hatte man mir sonst nichts abgenommen. Etwas misstrauisch machte mich jedoch, dass die Nachricht nicht unterschrieben war - wie im Krimi. Doch die Handschrift kam mir, wie gesagt, bekannt vor, und um das Original des Kapitels zurückzubekommen, hätte ich weit mehr unternommen, als in der Nacht zum Denkmal des großen russischen Schriftstellers zu pilgern.
Und so wartete ich, nachdem ich die Reinschrift des letzten Teils von Luis Casa del Lagartos Erzählung abgeschlossen hatte, mit Ungeduld darauf, dass der vereinbarte Termin näher rückte.
Trotz der späten Stunde waren die Rettungskräfte auf dem Arbat noch immer im Einsatz, und alles war in das gleißende Licht ihrer Scheinwerfer getaucht. Als ich bei den Boulevards eintraf, schien ich mich schlagartig in einem anderen Land zu befinden. Dort war es öd und leer. Dicke Nebelschwaden hatten sich hier zusammengebraut, als wäre eine Gewitterwolke auf die Erde herabgesunken.
In Moskau wird es praktisch nie dunkel. Reklametafeln leuchten neonfarben, die Straßenlampen geben ihr Bestes, und in ihrem Licht posieren selbst die schmutzigsten und unansehnlichsten Häuser gerne, denn sie erleben in ihrer Beleuchtung eine Art zweiter Geburt. Sogar der ewig über der Stadt wabernde Nebel - die Ausdünstungen von Hunderten von Fabriken und Millionen von Menschen - nimmt etwas von diesem marktschreierischen Glanz auf und beginnt ein eigenes, blass phosphoreszierendes Licht zu emittieren.
In dieser Nacht kam es mir jedoch so vor, als hätte jemand eine Kapuze über die Boulevards gestülpt: Sie waren in undurchdringliches, bedrückendes Zwielicht getaucht. Nur etwa jede zehnte Straßenlampe brannte, so dass die neblige Allee eine langgestreckte Kette aus milchigen Kugeln formte, zwischen denen kahle Zweige toter Bäume hervorragten. Noch bevor ich den steinernen Schriftsteller erreichte, bereute ich bereits meinen nächtlichen Ausflug.
Die Zufahrt zu den Boulevards versperrten offenbar eingestürzte Gebäude, denn in der ganzen Zeit fuhr kein einziges Auto an mir vorbei. Die Häuserfenster waren ausnahmslos schwarz. Vermutlich war hier die Stromversorgung noch nicht wiederhergestellt worden. Wenn mir jetzt etwas zustieß, würde es niemand merken.
Nervös blickte ich mich um. Keiner da. Sollte sich jemand einen Scherz erlaubt haben? Oder war ich einem Experiment der Ermittler auf den Leim gegangen? Vorsichtig ging ich weiter. Auf dem Zettel war nicht angegeben, wo genau das Treffen stattfinden sollte, also würde ich die gesamte Strecke von Gogols Standbild bis zur Kropotkinskaja entlanggehen müssen.
Die Allee war menschenleer.
Weitere Kostenlose Bücher