Sumerki - Daemmerung Roman
Als ich sie schon fast ganz abgeschritten war und mich bereits den kleinen Kiosken am Eingang der Metrostation näherte, beschleunigte ich meinen Schritt. Mir war klar, dass man mich reingelegt hatte. Vielleicht nutzte in diesem Moment jemand meine Abwesenheit, um in meine Wohnung einzubrechen und auch noch das letzte Kapitel zu stehlen. Hastig machte ich kehrt, um wieder nach Hause zu laufen, doch da sah ich plötzlich etwas vor mir …
In etwa dreißig Schritt Entfernung stand eine schwarze Gestalt, umhüllt von einem Kokon aus Licht. Auf den ersten Blick menschlich, machte sie doch einen unheimlichen Eindruck, denn Arme und Beine waren unnatürlich gebogen, die Haltung gekrümmt, und der Kopf hing willenlos herab. Zugleich kam mir die Silhouette irgendwie bekannt vor.
Das Wesen machte einen Schritt: Mit einer heftigen Bewegung riss es das Knie nach oben, sein Becken zuckte, mit unerklärlicher Leichtigkeit bewegte es sich um gut anderthalb Meter nach vorn und tauchte in den Schatten ein. Jetzt nickte es, als wollte es mich ermuntern: Sein Kopf kippte ungestüm nach hinten und fiel wieder auf die Brust.
Ich wollte mich ihm nähern, doch die feine Schicht matschigen Schnees auf dem schwarzen Asphalt war plötzlich wie Treibsand: Meine Füße steckten darin fest und gehorchten mir nicht mehr. Die unheilvolle, dunkle Gestalt stand jetzt nahezu reglos da. Sie schwankte lediglich ein wenig hin und her, als ob der Wind sie bewegte, und schien mir nicht feindlich gesinnt zu sein. Doch das Grauen, das mir ihr Anblick einflößte, war ebenso gewaltig wie damals, als ich an meiner Wohnungstür mit dem Golem gerungen hatte.
Plötzlich flog die Hand der Kreatur, die bis dahin leblos neben ihrem Rumpf gehangen hatte, in die Höhe, beschrieb einen Halbkreis und erschlaffte wieder. Diese Bewegung wiederholte sich einmal und dann noch einmal, bis ich begriff, dass sie mich zu sich rief. Ich senkte den Blick, holte tief Luft, versuchte an nichts zu denken und zwang mich, etwa zwanzig hölzerne Schritte nach vorn zu machen.
Als ich erneut aufsah, bekreuzigte ich mich unwillkürlich. Meine Seele mochte von einem Gemisch aus wissenschaftlichem Atheismus und Maya-Aberglauben erfüllt sein, doch führten meine Hände dieses Schutzzeichen geradezu automatisch aus - wahrscheinlich gab es doch so etwas wie ein genetisches Gedächtnis.
Es war ein Mensch.
Durch die aufgerissene Jacke erblickte ich eine schwarze, furchtbare Wunde in seiner Brust. Sein Kopf hing nach unten und zur Seite, zuckte dann zusammen und hob sich.
Es war Nabattschikow, der sich, obwohl hoffnungslos tot, unbegreiflicherweise noch auf den Beinen hielt. Seine leeren Augen starrten weiß vor sich hin, auf den Lippen und an den Nasenlöchern klebte blutiger, vertrockneter Schaum. Einer seiner unnatürlich verdrehten Arme drückte die unselige Aktentasche gegen seinen Rumpf. Die Knie des armen Majors waren leicht eingeknickt, und der Oberkörper hing schwer nach vorn durch - eine Haltung, die allen Vorstellungen vom Aufbau des menschlichen Stütz- und Bewegungsapparats widersprach. Eine Haltung, in der man unmöglich stehen konnte, es sei denn …
O Gott.
Was ich anfangs für silbrige Nebelstreifen gehalten hatte, waren im Licht der Straßenlampen schimmernde, kaum zu erkennende Fäden, die von den Ellenbogen, Handgelenken, Knien, Fersen, der Hüfte, den Schultern und dem Scheitel des toten Majors nach oben führten. An diesen Fäden hing seine ausgeweidete Leiche, sie bewegten sie wie eine riesige Marionette. Wer auch immer der ungeheure Puppenspieler
war, er blieb für mich inkognito: Ich wagte es nicht hinaufzublicken.
Entsetzt schrak ich zurück, doch bevor ich davonlaufen konnte, schleuderte der Tote seinen Arm nach vorn, und die Tasche klatschte auf den Asphalt. Er gab sie mir, gab mir das zurück, was er mir genommen hatte, wie versprochen. War ich nicht deswegen hier?
Taktvoll machte Nabattschikow einen Schritt zurück. Wieder bekreuzigte ich mich, hob die Tasche auf, wobei ich vor lauter Aufregung fast in den Matsch gefallen wäre, und stürzte Hals über Kopf davon, fort von diesem verfluchten Ort.
An diesem Abend betrank ich mich zum ersten Mal seit vielen Jahren. Mit einer Flasche schottischem Whiskey, die ich für besondere Anlässe bei mir lagerte. Erst als ich sie zur Hälfte geleert hatte, wagte ich die Tasche des Toten zu öffnen. Ich holte die Blätter heraus und ließ den Rest im Müllschlucker verschwinden, nicht ohne die zu ewiger
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