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Sumerki - Daemmerung Roman

Titel: Sumerki - Daemmerung Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dmitry Glukhovsky
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höchster
Besorgnis. Der Guardian hatte seine Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger vor sich erhoben, gleichsam drohend oder warnend.
    Insgesamt sah er exakt so aus, wie ich ihn mir vorgestellt hatte: eine hohe Stirn, noch verstärkt von den hinaufstrebenden Geheimratsecken, scharfe Wangenknochen, eine große Höckernase, geschwollene Lider und Ringe unter den Augen.
    Das Bild war lediglich mit dem kurzen Titel Diego de Landa sowie den Lebensdaten des Bischofs versehen. Noch mehr wunderte mich, dass in dem gesamten Kapitel, in dessen Mitte sich die Abbildung befand, Landa kein einziges Mal erwähnt wurde. Es war überhaupt nicht nachzuvollziehen, warum der Herausgeber das Porträt des Franziskaners ausgerechnet in dem Teil platziert hatte, in dem es um die religiösen Vorstellungen der Maya ging und einige ihrer Riten beschrieben wurden.
    Verblüfft vergaß ich all meinen Aberglauben und begann das Kapitel konzentriert von vorn bis hinten durchzublättern. Ein unbedarfter Leser hätte sicher nicht gezweifelt, dass Landas Porträt an dieser Stelle aufgrund eines typografischen oder editorischen Fehlers auftauchte. Doch je länger ich über die rätselhafte Position der Abbildung nachdachte, desto mehr begann ich zu glauben, dass es sich um eine Laune des Autors handelte.
    Das Blatt mit der Reproduktion befand sich auf der rechten Seite. Die linke bedeckte das Schutzpapier, so dass beide Seiten nicht gleichzeitig zu sehen waren und sich auch inhaltlich kein Bezug herstellen ließ. Erst jetzt kam ich auf die Idee, dies zu versuchen.

    Hier der vollständige Text, den ich auf der linken Seite erblickte:
     
    »Rituell wurde der Priester beim Menschenopfer von vier älteren Männern unterstützt, die zu Ehren der vier Regengottheiten ›Chaac‹ genannt wurden. Jeder dieser ›Chaacs‹ hielt das Opfer, das auf einem besonderen Altar lag, an einer der Extremitäten fest, während ein anderer Mann, der ›Nacom‹ (›Kriegsherr‹), ihm die Brust aufschnitt. Ebenfalls an diesem Kult beteiligt war der ›Chilam‹, eine Art sehender Schamane, der im Zustand der Trance ›Botschaften‹ der Götter empfing. Seine Prophezeiungen wurden für gewöhnlich von den Versammlungen der Priester ausgelegt.
    Geopfert wurden Gefangene und Sklaven, am häufigsten jedoch Kinder (unehelich geborene oder Waisen, die man zu diesem Zweck eigens ankaufte). Der Brauch, nicht Tiere, sondern Menschen zu opfern, hatte sich in Yucatán seit der Herrschaft der kriegerischen Tolteken durchgesetzt. Für diese wichtigen Zeremonien wurden Opfertische auf kultischen Bauwerken, meist Tempelpyramiden, verwendet.
    Die Durchführung dieser Rituale war kalendarisch - hier vor allem durch den 260-tägigen Zyklus - fest vorgeschrieben, und die Zeremonien waren mit symbolischer Bedeutung aufgeladen. So figurierten darin häufig die Zahlen 4, 9 und 13 sowie Verweise auf Farben, die mit den Himmelsrichtungen assoziiert wurden. Es besteht kein Zweifel, dass die wichtigsten Rituale mit dem Beginn des neuen Jahres in Zusammenhang standen.«
     
    Weiter ließ sich der Autor detailliert über die beiden Kalender der alten Maya aus. Hier verlor ich schnell den Faden, da mich die Bedeutung dessen, was ich in den drei
vorhergegangen Absätzen gelesen hatte, schlagartig bis ins Mark traf: Das Ritual der Menschenopferung, das Jagoniel so lakonisch skizzierte, entsprach exakt dem, was ich in meinen Alpträumen gesehen hatte. Meine Gedanken wirbelten durcheinander. Hatte ich die Beschreibung dieser Zeremonie vielleicht schon einmal gelesen, bevor mir das Tagebuch des Konquistadoren in die Hände geraten war? Möglicherweise war mir das furchterregende und zugleich magische Bild im Gedächtnis geblieben, weil ich als Kind irgendeinen Abenteuerroman über die Eroberung Südamerikas gelesen hatte. Die Vernunft hatte es damals verdrängt, es war in den dunklen Keller des Unbewussten gestürzt und erst jetzt über die Strickleiter, die ihm mein Konquistador zugeworfen hatte, wieder emporgeklettert … Aber war es möglich, etwas völlig zu vergessen, das einem als Kind so ungeheure Angst eingejagt hatte?
    Noch etwas anderes war mir in diesen drei Absätzen aufgefallen: »… die zu Ehren der vier Regengottheiten ›Chaac‹ genannt wurden …« Wo hatte ich diesen Namen schon einmal gelesen? Ich sprang auf und lief zum Schreibtisch, wo der Papierstapel mit meinen Übersetzungen lag. Das gesuchte Wort fand sich ganz am Ende: Es war jene von mir grob nachgezeichnete Abbildung

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