Sumerki - Daemmerung Roman
einem der hinteren Tische döste ein beleibter Mann mit Schnurrbart und Lederjacke vor sich hin. Kein Wunder, handelte es sich doch um die »toten« Stunden zwischen Mittag und Abend. Zu dieser Zeit trieben sich in Cafés wie diesem nur
Nichtstuer wie ich herum. In knapp zwei Stunden würde sich der Raum allmählich mit Menschen in Anzügen und Kostümen füllen, die nach der Arbeit hier einkehrten. Bei dem Geräuschpegel, der dann hier herrschte, würde meine geplante Unterhaltung mit der Kellnerin sicher nicht mehr so verlaufen, wie ich es mir wünschte.
Als die junge Frau mir das Lobio brachte, blickte ich kurz auf das Namensschild an ihrer Brust, ehe ich fragte: »Sagen Sie, Lena, was ist denn mit Ihren Nachbarn passiert?«, und deutete mit dem Kopf vage in Richtung des Hausteils, in dem sich das Büro befand.
Die Kellnerin hielt inne, klapperte mit den riesigen, schwarz getuschten Wimpern ihrer großen grauen Augen und blickte mich erstaunt an. Vielleicht glaubte sie, dass ich mich für ihre Nachbarn zu Hause interessierte oder ihr geheimer Bewunderer war, also präzisierte ich hastig: »Ich meine das Übersetzungsbüro, Sie wissen schon, zur Straße hoch und den nächsten Hauseingang rein.« Um jegliches Missverständnis zu vermeiden, deutete ich mit dem Zeigefinger zur Decke.
Sie rollte die Lippen ein und runzelte die Stirn. Ich versuchte einen entspannten Eindruck zu machen, spießte etwas von dem Salat auf meine Gabel, doch meine Hand zitterte auf perfide Weise, und ein Stück Hühnerfleisch klatschte zu Boden. Schon griff ich nach meiner Serviette, doch die Kellnerin war schneller. Während sie den Boden wischte, beobachtete ich den kecken Pferdeschwanz, zu dem sie ihre platinblonden Haare zusammengebunden hatte, und stammelte: »Wissen Sie, ich arbeite für die … als Übersetzer. Und jetzt war ich fast zwei Wochen krank. Heute habe ich
mich besser gefühlt und wollte vorbeischauen, um Bescheid zu sagen, dass es mich noch gibt. Und da sehe ich, dass alles geschlossen und versiegelt ist. Wissen Sie vielleicht, was passiert ist? Wann machen die wieder auf?«
Sie hob den Kopf. »Lesen Sie denn keine Zeitung? Vorletzten Donnerstag stand es im Moskowski Komsomolez . Wir haben den Artikel sogar aufbewahrt.«
Der Zeitungsausschnitt war schon ganz abgegriffen und speckig. Offenbar war ich nicht der Einzige, der sich erkundigt hatte, und die Bedienung war es leid, zehnmal am Tag die gleiche Story zu erzählen.
»Moskauer Mörder entführen Leiche« , lautete die vielversprechende Überschrift. Es war die Art von Artikel, wegen der ich in den letzten zehn Jahren aufgehört hatte, meine einstige Lieblingszeitung zu lesen.
»Das Übersetzungsbüro Asbuka war letzten Mittwoch Schauplatz eines brutalen Raubmords. Unbekannte Täter drangen in die Räume des Büros ein, töteten den zur Tatzeit dort befindlichen Mitarbeiter Ilja S. und raubten das Büro aus. Die Täter handelten offensichtlich aufgrund bestimmter Hinweise und suchten gezielt nach Unterlagen und Geld. Eine Reihe von Dokumenten und der Safe, in dem sich die Wocheneinnahmen befanden, sind verschwunden. Die Bürotechnik wurde jedoch unversehrt zurückgelassen.
Derzeit gibt es noch keine Spur von den Tätern. Auch ist bisher noch ungeklärt, wohin die Mörder die Leiche von Ilja S. geschafft haben. An seiner Ermordung besteht für die Miliz jedoch kein Zweifel: Auf dem Boden des Büros wurde eine große Menge Blut nachgewiesen; die Blutgruppe ist mit der von Ilja S. identisch. Nach Meinung der Gerichtsmedizin führt ein derart hoher Blutverlust unweigerlich
zum Tode. Der Leichnam selbst war jedoch am Tatort nirgends zu entdecken. Die Ermittlungsleitung schließt nicht aus, dass die Täter die Leiche mitgenommen und in einem der Wälder außerhalb Moskaus vergraben oder aber in der Moskwa versenkt haben. Eine Erklärung für diese Vorgehensweise gibt es nach Angaben der Miliz zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht.«
»Sie glauben doch nicht, dass darin die ganze Wahrheit steht?«, fragte spöttisch eine heisere Frauenstimme hinter meinem Rücken.
Ich zuckte zusammen und wandte mich um. Hinter mir stand, auf einen Wischmopp gestützt, eine vielleicht 50-jährige Frau mit hagerem, unfreundlichem Gesicht und dunklen, leicht angegrauten Haaren.
Ich verschluckte mich an meinem Salat und hustete. Dann legte ich die Gabel hin. »Die ganze Wahrheit?«
»Natürlich nicht, wie denn auch. Dass zum Beispiel alle Türen verschlossen waren und der Schlüssel
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