Sumerki - Daemmerung Roman
noch verriegelt. Dann mich vorsichtig zurückziehen, die Tür immer im Blick, und nach dem Telefon tasten. So lautlos wie möglich auftreten - damit kein Knarren des Parketts auch nur das kleinste Rascheln überdeckte, das von der anderen Seite zu mir dringen konnte. Jetzt musste ich nur noch die Nummer wählen.
Das Läuten klang heiser und gedämpft. Die Telefonvermittlung des Arbatviertels war wahrscheinlich ein letztes Bollwerk der alten, analogen Telekommunikationstechnik - in allen anderen Stadtteilen hatte man längst dem unaufhaltsamen Druck der modernen Technologien nachgegeben. Auch die Qualität der Verbindung ließ zu wünschen übrig: Selbst wenn ich meinen Nachbarn aus der Wohnung zwei Stockwerke über mir anrief, klang seine Stimme so schwach, als hätte sie den ganzen Weg aus dem fernen Westen durch ein transatlantisches Kabel auf dem Grund des Ozeans hinter sich. Manchmal führten gewisse Fehler im System dazu, dass ich aus Versehen mit ganz anderen Teilnehmern
verbunden wurde als den gewünschten. Und hin und wieder sorgten Kurzschlüsse in den schwedischen Vermittlungsautomaten vom Anfang des letzten Jahrhunderts dafür, dass sich in mein Gespräch auf einmal zwei völlig fremde Personen einklinkten.
Ich wusste nicht mehr, ob und wann ich jemals die Miliz angerufen hatte. In den letzten zehn Jahren war es jedenfalls kein einziges Mal vorgekommen. Also hatte ich auch nicht die geringste Ahnung, wie lange man für gewöhnlich warten musste, bis am anderen Ende der Leitung irgendso ein kantiger, dynamischer Ermittlungsbeamter abhob und »Ja bitte?« sagte. Nachdem ich die heilige 02 gewählt hatte, wartete ich angespannt. Fünf lange Signaltöne, ohne dass sich jemand gemeldet hätte. Allmählich geriet ich in Panik.
Sechs … zehn … siebzehn … fünfundzwanzig … Beim vierunddreißigsten Ton klopfte es wieder an meiner Tür, diesmal so heftig, dass das Geschirr in meinem Küchenschrank klirrte. Ich versuchte die Feuerwehr zu erreichen, den Notarzt - ohne Erfolg. Offenbar war ich in dieser Welt allein mit dem Monster, das mir wie ein Abgesandter aus einem fremden Alptraum erschien, meine Wohnung belagerte und geduldig meine Kapitulation erwartete.
Ich ließ den Hörer die ganze Nacht über so liegen, dass ich sein gleichmäßiges, leises, unsicheres Signal hören konnte. Vor Angst und Müdigkeit schlotternd verbrachte ich noch weitere zwei Stunden in meinem Flur, bis ich es schließlich nicht mehr aushielt und in einen leeren, schwarzen Schlaf versank. Als ich erwachte, war es bereits Tag. Der Treppenabsatz war auf den ersten Blick verlassen, doch ich kam erst zur Ruhe, nachdem ich etwa zehn Minuten durch den
Spion gestarrt hatte und schließlich das Nachbarmädchen sah, das unbesorgt die Treppe hinunterhüpfte.
Ich ging zu dem Tischchen hinüber und legte den Hörer auf. Dann wählte ich aus bloßer Neugier noch einmal die 02. Keine Ahnung, was ich mir damit beweisen wollte. Bereits nach dem zweiten Läuten ertönte ein weiches Klicken, und eine tiefe Männerstimme sagte: »Miliz, ja bitte?«
Was konnte man in so einem Fall sagen? »Ich hatte die ganze Nacht einen Golem vor der Tür, kommen Sie schnell … Ich lese trotz aller Warnsignale ein jahrhundertealtes Manuskript, und jetzt wollen dunkle Kräfte mich daran hindern, das weiterhin zu tun. Bitte beschützen Sie mich.« Ich zögerte ein paar Sekunden und legte ohne ein Wort wieder auf. Dann entriegelte ich sämtliche Türschlösser und trat hinaus.
Auf dem Treppenabsatz hatte das Wesen, das ich in der Nacht durch das Guckloch gesehen hatte, keine Spuren hinterlassen. Durch das beschlagene Fenster in der Mitte des Treppenlaufs drangen Sonnenstrahlen herein. Es war herrliches Wetter draußen. Von unten klangen fröhliche Kinderstimmen herauf, der Aufzug huschte unruhig zwischen den Geschossen hin und her, und von Zeit zu Zeit knallte die Haustür geräuschvoll ins Schloss. Meine gestrigen Ängste kamen mir lächerlich vor. Waren mir die Nerven durchgegangen? War ich bloß am Schreibtisch eingenickt und schlafwandelnd im Flur gelandet? Zur Sicherheit trat ich noch ein paar Schritte in das Treppenhaus hinein, um mich umzusehen.
Plötzlich erstarrte ich. Auf den kunstledernen Überzug meiner eisernen Wohnungstür hatte jemand etwas geschrieben.
Vorsichtig lehnte ich sie an und starrte ungläubig auf die schwarzen Buchstaben, die offenbar mit Asche aufgetragen worden waren. Die Aufschrift war spanisch - durchaus korrekt, aber irgendwie
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