Sumerki - Daemmerung Roman
stieg aus. Auf dem vereisten Bürgersteig bis zur nächsten Station zu gehen würde mindestens genauso viel Zeit beanspruchen, wie der Fahrer für die Beseitigung des Schadens angesetzt hatte. Letztendlich dauerte
die Reparatur dann über eine halbe Stunde, doch die meisten Fahrgäste blieben trotzdem sitzen. Denn spätestens nach fünfzehn Minuten fürchtete jeder der Passagiere nichts mehr, als dass der Bus genau dann losführe, wenn er gerade ausgestiegen wäre.
Ich hauchte mehrmals auf die mit Raureif überzogene Fensterscheibe. Durch das so entstandene Loch war jedoch nicht viel zu sehen: ein Stück Haus und ein erst vor kurzem errichtetes Denkmal für die Helden des Großen Vaterländischen Krieges. In diesem Jahr waren aus Anlass eines eigentlich gar nicht runden Siegesjubiläums im ganzen Land besonders viele neue Denkmäler aufgestellt worden, einschließlich einer Statue von unglaublichen Ausmaßen und zweifelhaftem künstlerischem Wert. In der ganzen Stadt hingen Plakate, auf denen Konzerte mit Liedern von damals angekündigt wurden, die Kinos zeigten Retrospektiven mit Schwarz-Weiß-Filmen über die Partisanenbewegung und die Eroberung des Reichstags, hippe Galerien organisierten Fotoausstellungen mit Titeln wie Die Gesichter der Helden oder Jene, die damals …
Ich fragte mich, wie der Große Sieg so plötzlich aus den Archiven auf die Straßen hatte zurückkehren können. Zwanzig Jahre zuvor hatte man, so erinnerte ich mich, der Ereignisse von damals weit weniger aufmerksam gedacht. Inzwischen waren selbst von der Generation, die während des Kriegs nicht selbst mit der Waffe in der Hand über bluttriefende Felder des Todes marschiert war, sich aber sehr wohl noch an das Heulen der Sirenen erinnerte, das sie aus ihrem leichten, kindlichen Schlaf geweckt hatte, nur noch wenige Vertreter am Leben. Und dennoch hatte der Tag des Sieges
auf einmal wieder einen Stellenwert erreicht wie zuvor wahrscheinlich nur in den ersten zehn bis fünfzehn Jahren nach Kriegsende.
Vielleicht war dies als ein letztes Dankeschön für die letzten lebenden Veteranen gedacht. Oder aber es war Vater Staat, der Inspiration aus den historisch zurechtretuschierten Heldentaten schöpfte und nun darauf hoffte, dass die Bürger seinem Beispiel folgten. Jedenfalls nahm der Große Sieg zunehmend mehr Raum im kollektiven Bewusstsein der Menschen ein. Ich fand das alles widernatürlich: Geschminkte alte Mütterchen machen auf Propagandaplakaten nun mal keine gute Figur. Eine siebzigjährige Marlene Dietrich taugt nicht mehr dazu, die ganze Nation zu verführen.
Die Geschichte ist wie die Gorgo Medusa: Unter ihrem Blick stirbt alles ab und erstarrt. Gesichter, einst voller Leben, voller Schmerz, Freude, Leidenschaft und Angst, gefrieren zu der immer gleichen heroischen Grimasse. All die echten Farben - Rosa, Grün, Hellblau, Dunkelbraun, Rot- oder Strohblond -, sie verschwinden, und an ihre Stelle treten zwei leblose Töne: blendend Marmorweiß für die Führer der Nation, Granitgrau für deren Erfüllungsgehilfen.
Die über das ganze Land verteilten steinernen Kämpfer des Großen Vaterländischen Krieges kommen mir wie getrocknete, auf Stecknadeln gespießte Schmetterlinge vor. Die einen sollen ihre Schönheit und Eleganz bewahren, die anderen dafür sorgen, dass Heldentum und Opfermut nicht vergessen werden. Doch ein Gemütszustand lässt sich nun mal nicht in Formalin konservieren. Wenn Kinder heute in der Schule »Ruhm den Helden« skandieren, so verstehen
sie kaum, was sie da sagen. Die eigentliche Erinnerung an jeden Krieg überdauert nämlich nur drei Generationen. Um zu begreifen, was der Krieg für diejenigen bedeutet, die ihn selbst erlebt haben, muss man es sich von ihnen erzählen lassen - und zwar am besten noch auf ihrem Schoß sitzend. Die Ururenkel dagegen können die Soldaten gar nicht mehr kennen. Ihnen bleiben nur langweilige Schulbücher, tendenziöse Filme und aus Granit gemeißelte Statuen, deren pupillenlose Augen streng in die Ewigkeit blicken.
Wie fast jeder Russe bekomme auch ich feuchte Augen, wenn der satte Bariton die Hymne »Dieser Tag des Sieges …« intoniert. Auch ich bin mit den vielen Filmen über heldenhafte Panzerfahrer oder über den heroischen Kundschafter Kusnezow aufgewachsen. Noch heute weiß jeder Junge, wie man beim Kritzeln im Schulheft auf die eine Flagge ein Hakenkreuz malt - als Symbol für das Böse - und auf die andere einen roten Stern, die Verkörperung des Guten. Auch ich habe
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