Sumerki - Daemmerung Roman
verzeihen Sie …«
»Sie können den Auftrag jederzeit abliefern, sobald Sie fertig sind«, fuhr er fort, als sei nichts gewesen. »Unser Empfang ist täglich besetzt. Alles Gute.«
Es war erstaunlich schnell dunkel geworden, als hätte jemand einfach das Licht ausgemacht. Als ich vorhin das Haus betreten hatte, in dem sich das Übersetzungsbüro befand, waren die Straßen noch in milchigen Dunst getaucht gewesen. Nur fünfzehn Minuten später schien jemand großzügig Tinte in der Luft verteilt zu haben. Wären nicht die Straßenlampen gewesen, die Erde wäre plötzlich auf ein winziges Fleckchen mit einem Radius von vielleicht zwanzig Schritt geschrumpft: genau die Stelle, wo ich jetzt stand.
Ich beschloss, das Schicksal nicht noch ein zweites Mal herauszufordern, und nahm die Metro. Mit Anbruch der Dunkelheit fühlte ich mich weitaus weniger sicher. Weder die Vorfreude auf eine neue Zeitreise noch die immer näher rückende Auflösung der rätselhaften Expedition konnten mich von dem Gedanken an jenes Monster ablenken, das
die ganze Nacht vor der Tür meiner Wohnung auf mich gelauert hatte. In den langen Gängen der Metro hatte ich mehrmals das Gefühl, dass der Schatten einer riesigen Gestalt auf mich und die vor mir gehenden Menschen fiel. Wenn ich mich dann aber umdrehte, warf ich mir im selben Moment meine Schwäche vor, weil ich meinen dummen Ängsten nachgegeben hatte. Das Gefühl, verfolgt zu werden, erzeugte einen spürbaren Reiz im Rücken und ein unangenehmes Kitzeln im Nacken. Ich wartete ganz am Ende des Bahnsteigs auf den Zug. Als er einfuhr, hielt ich es nicht mehr aus. Ich drängelte mich durch die Menge der Passagiere und schaffte es, ganze zwei Waggons entlangzulaufen. Erst unmittelbar vor der Abfahrt sprang ich in den Zug. Niemand war mir gefolgt, und als ich ausstieg, hatte meine Panik ein wenig nachgelassen.
Wäre ich von der Metrostation auf kürzestem Weg durch die abendlich leeren Gassen gegangen, hätte ich ein gutes Stück des Weges abkürzen können, doch trugen mich meine Beine wie von selbst auf den Arbat. Dort waren auch zu dieser Stunde noch viele Menschen unterwegs, was die Wahrscheinlichkeit eines Überfalls verringerte - zumindest bildete ich mir das ein. Ich spürte, wie meine Selbstbeherrschung mit jedem Schritt nachließ. Um mich zu beruhigen, zählte ich die dreiköpfigen Straßenlampen des Arbat. Als ich jedoch den Hof meines Hauses erreichte, stürzte ich Hals über Kopf auf den Eingang zu. Vom anderen Ende des Hofplatzes drang erneut Hundegebell herüber - offenbar hatte tatsächlich eine Meute streunender Hunde diesen Ort für sich entdeckt.
Ich stand bereits an der Haustür und tippte den Zugangscode ein, hinter mir die abendliche Kakophonie des Arbat:
ein Gemisch aus dröhnenden Motoren, Stimmengewirr, Hupen und Hundegezänk. Plötzlich ertönte von irgendwo ein lang gezogener, grauenvoller Schrei. Mir gefror das Blut in den Adern: Dieser Schrei war nicht von dieser Welt .
Die Hunde verstummten, als hätten sie sich an ihrem Gebell verschluckt, dann begann einer nach dem anderen verzweifelt zu heulen. Ich riss die Tür auf, schlug sie hinter mir zu, flog in Sekunden zu meinem Stockwerk hoch, blickte mich auf dem Treppenabsatz gehetzt um, und erst als ich in meiner Wohnung angelangt war und sämtliche Schlösser vorgeschoben hatte, lehnte ich mich ermattet gegen die Wand und versuchte Luft zu holen.
Im Treppenhaus war es ruhig. Ich betrat meine Wohnung, ging, ohne den Mantel abzunehmen, in mein Zimmer und legte die Mappe auf den Tisch. Unter dem glänzenden schwarzen Plastik lugte beruhigend das alte, sandfarbene Papier hervor. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und sank auf meinen Stuhl.
»Dass sich mir die Bedeutung des indianischen Wortes ›sakbe‹, wie sie diese erstaunliche Straße aus weißem Stein nannten, erst später offenbarte. Dass mein Leben sich in der Folge änderte und ich fürderhin nie mehr derselbe war wie zuvor.
Dass diese Veränderungen mit all dem zu tun hatten, was sich während meiner Wanderung auf dem ›sakbe‹ zutrug, sowie mit dem, was ich am Ende meines Weges erfuhr. Jenem Wissen, von dem ich weiter unten berichten werde und über das ich bereits in der Einleitung zu diesem Bericht geschrieben habe, welche sich im Ersten Kapitel befindet …«
LA INICIACIÓN
D ass wir auf dem ›sakbe‹ unseren Weg fortsetzten und, wie ich aus der Position der Sterne schloss, nach Südosten gingen. Dass die ersten Stunden des
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