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Sumerki - Daemmerung Roman

Titel: Sumerki - Daemmerung Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dmitry Glukhovsky
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religiöse Attribute zuzulegen. Mit dem Glauben war es eben wie mit der Liebe: Entweder war er da oder nicht. Gespenster? Gerne. Magische Bücher? Jederzeit. Aber mit der Bibel und dem Evangelium war es weit komplizierter: Diese Geschichte zu glauben fiel mir schwer, obwohl ich es ein paarmal ernsthaft versucht hatte. Sie hatte mich nicht überzeugt, basta.
    Schon mancher Priester war an meinem skeptischen Blick hängen geblieben und hatte, sein herablassendes Lächeln hinter seinem Rauschebart verbergend, ein missionarisches Gespräch mit mir begonnen. Wenn ich Zeit hatte und mir danach war, hörte ich ihm zu und antwortete sogar, doch am Ende des Gesprächs hatte keiner von uns seine Meinung
geändert. Auf meine säuerliche Miene reagierte der Pope dann stets mit mildem Lächeln und sagte, ich sei wohl noch nicht so weit, noch nicht bereit, zu erkennen und zu begreifen.
    Schon möglich. Doch wenn ich mir die sich unablässig bekreuzenden alten Frauen ansah oder von Krebskranken las, die sich mit letzter Hoffnung an die Religion klammerten, wenn ich mit der Neugier eines Anthropologen unter den Kirchgängern auf einmal einen kahl rasierten Banditen mit massivem Amulett am Stiernacken entdeckte, so hatte ich irgendwie das Gefühl, dass ich noch lange nicht so weit sein würde. Der Glaube ist eine Krücke, und es greift derjenige nach ihr, der nicht mehr weiß, was ihm der morgige Tag bringt. Mein Leben war dagegen durch alltägliche Routine und die immer gleiche Arbeit absolut überschaubar geworden, nicht weniger vorhersehbar als eines dieser magischen Maya-Horoskope. Bis vor kurzem zumindest.
     
    Mich verblüfft immer wieder aufs Neue, dass dieser Staat, der sieben Jahrzehnte lang alles darangesetzt hat, den religiösen Glauben im Herzen seiner Bürger auszurotten, sich mit einem Mal selbst wie wild bekreuzigt und andächtig wie ein gottesfürchtiges Mütterchen niederkniet. Sorgt er sich etwa um seine Zukunft? Warum greift er nach diesen Krücken?
    Woran denkt ein Minister, wenn er beim Ostergottesdienst mit ernster Miene das Kreuz schlägt und dabei versucht, an den zig TV-Kameras vorbeizuschauen, damit sein religiöser Eifer überzeugend wirken möge? Erhielten nicht dieselben Leute vor wenigen Jahrzehnten mit erleuchtetem
Lächeln die Weihe der Kommunistischen Partei? Beteten sie nicht inbrünstig und mit dem Parteibüchlein an der Brust vor der sowjetischen Ikone, dem übermächtigen Lenin mit dem wohlgefälligen, aber auch irgendwie durchtriebenen Konterfei? Übten sie sich nicht bei den Versammlungen des Komsomol in atheistischer Rhetorik, um ideologisch in Form zu bleiben?
    Hunderte von Kirchen, die im ganzen Land errichtet werden, künden scheinbar von einer Renaissance des Geistlichen. Tatsächlich aber sind ihre Bauherren tief im zollfreien Import von Alkohol und Zigaretten verstrickt, weshalb die neuen Tempel eigentlich alle den Titel »Bluterlöserkirche« verdient hätten. Das krasseste Beispiel hierfür ist jene gigantische Kathedrale im Zentrum Moskaus, die gleichsam von selbst und gänzlich ungebeten aus dem Jenseits zurückgekehrt ist. Ausgestattet mit einem dreistöckigen, unterirdischen und übrigens gebührenpflichtigen Parkhaus, ist diese Fabrik der Gnade auf rund zehntausend Gottesdienstbesucher ausgelegt. Dieser Fall erinnert mich stets an jene haitianischen Magier, die angeblich Tote erwecken und sich zu Diensten machen können.
    Mögen mir meine Ausfälle dereinst vorm Jüngsten Gericht verziehen werden. Auch wenn ich formal zur neuen Generation gehöre, bin ich doch offenbar ein Homo sovieticus geblieben, bei dem die Drüsen zur Erzeugung des »Glaubenssekrets« schlicht und einfach verkümmert sind. Nichtsdestotrotz begegne ich der Orthodoxie und dem Christentum im Allgemeinen wie auch anderen Religionen mit Respekt. Und ich bin mir nicht so sicher, was diesen Gott und all die anderen Götter mehr beleidigt: mein aufrichtiger
Atheismus oder aber all dieses pompöse, erbärmliche Glaubenstheater, das Millionen von Menschen tagtäglich inszenieren, mal ängstlich zum Himmel blickend, mal argwöhnisch sich gegenseitig musternd …
     
    In diesem Augenblick brüllte es noch einmal los - nicht in einer entfernten Ecke des Hofs, sondern direkt vor meinem Hauseingang, so dass ich es zum ersten Mal deutlich hören konnte.
    Noch unmittelbar bevor die Fensterscheibe in meiner Küche leicht zu zittern begann, hatte ich versucht, alle Ereignisse im Zusammenhang mit dem Tagebuch rational zu

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