Sumerki - Daemmerung Roman
eine Anmerkung, dass die wichtigsten Götter des Maya-Pantheons mehrere Erscheinungsformen und Namen sowie Doppelgänger und Antipoden hatten, weshalb jene Europäer, die sich nicht genau mit der Materie auseinandergesetzt hatten, zu der Überzeugung gekommen seien, die Ureinwohner hätten unendlich viele Götter. Zur Veranschaulichung führte er ein paar aus einer seriösen Monografie abgekupferte Abbildungen an, unter denen ich Itzamná, den Schutzgott der Wissenschaftler und Gelehrten, die unverzichtbaren Chaacs sowie die Mondgöttin Ixchel erkannte.
Der Jaguarmensch, der offenbar eine ziemlich bedeutende Rolle in der Maya-Mythologie spielte, wurde zwar erwähnt, jedoch nur flüchtig in einer Reihe mit anderen Dämonen und Demiurgen. Kümmerling hatte wohl befunden, für den durchschnittlichen Leser damit mehr als genug getan zu haben, und sich in seiner typisch halbseidenen Art in ein anderes Thema geflüchtet.
Ehrlich gesagt hatte ich von ihm auch nichts anderes erwartet. Blieb nur zu hoffen, dass E. Jagoniel sich die Chance nicht entgehen ließ, dem staunenden Publikum zu zeigen, wodurch sich wahre Zauberkraft von Jahrmarktscharlatanerie unterschied. So ein faszinierendes Wesen konnte er doch nicht links liegen lassen. Überzeugt, bei ihm fündig zu werden, begann ich die Suche nach dem Jaguarmenschen direkt im Verzeichnis des Buches.
Unter »M« brauchte ich wohl nicht zu suchen. Aber unter »J« wurde ich fündig, dort stand »Jaguar«, und zwar gleichzeitig fett und kursiv:
» Jaguarmensch (myth.) S. 272-275«
Volltreffer. Drei Seiten voller akribisch gesammelter Erkenntnisse, kühner Hypothesen, und, wenn ich Glück hatte, sogar mit Abbildungen versehen.
267, 269, 277, 279 … Moment, das war doch nicht möglich. Vielleicht hatte ich in der Eile zu weit geblättert. Ich schloss die Augen und öffnete sie wieder, sozusagen um meine Verblendung zu zerstreuen. Dann kehrte ich auf Seite 267 zurück und arbeitete mich langsam und methodisch den ganzen kurzen Weg bis auf Seite 281 vor - wo mir zu meinem Schrecken das mir bereits bekannte, düstere Porträt Diego de Landas entgegenstarrte.
Ausgerechnet die drei Blätter, die ich brauchte, fehlten. Jemand hatte sie fein säuberlich aus dem Buch entfernt, mit einem einzigen, idealen, geraden Schnitt. Die dünnen Papierstreifen - das Einzige, was von den Seiten 271 bis 276 übrig war - zeugten davon, dass es sich nicht um einen Fehler der Druckerei handelte, sondern um eine geplante Missetat.
Die Seiten, die vor mir auf dem Tisch lagen, waren auf die gleiche Weise aus einem anderen Buch herausgetrennt worden. Es war nicht zu leugnen: Die gleiche Hand, die mir immer wieder neue Kapitel zur Übersetzung zukommen ließ, hatte aus einem von mir zufällig erworbenen Buch genau die Informationen entfernt, die für mich vielleicht von unschätzbarem Wert waren.
Hatte jener Unbekannte die Seiten ausgeschnitten, bevor ich das Buch in die Hände bekam? Oder war es gestutzt worden, während es neben dem Müllschlucker gelegen hatte? Letzteres war wahrscheinlicher; zumal dies dem damaligen Verschwinden meiner ersten Übersetzungen eine ganz neue Bedeutung verlieh.
Einen Augenblick lang fühlte ich mich wie eine Ratte, die ein neugieriger Forscher in ein Labyrinth mit sich hebenden und senkenden Türchen gesperrt hatte. Immer wieder öffneten sich neue Durchgänge, die entweder in die Freiheit oder in eine Falle führten, oder es schlossen sich plötzlich bestimmte Rückzugswege, so dass das Labyrinth ständig seine Gestalt veränderte und es von Anfang an unmöglich war, sich die zu Beginn eingeschlagene Route zu merken.
Nicht ich selbst rannte da wie ein Amokläufer endlose Gänge entlang: Jemand führte mich, öffnete und schloss bestimmte Klappen, spielte mir notwendige Informationen zu, entfernte Mitspieler von der Bühne, die nicht mehr benötigt wurden, und ließ mich dann erneut allein in diesem Labyrinth zurück. Hatte ich also gar keine Wahl, sondern nur eine Illusion derselben? Und was lag am Ende jener einzig möglichen Route, die dieser Jemand für mich vorgezeichnet hatte?
Am schlimmsten war, dass ich die einzelnen Ereignisse, aus denen diese merkwürdige und finstere Geschichte - sowohl jetzt als auch im 16. Jahrhundert - bestand, noch immer nicht zu einem Gesamtbild zusammensetzen konnte. Wären mir die Spielregeln von Anfang an bekannt gewesen, vielleicht hätte ich dann eine aktivere Rolle darin spielen können.
Einstweilen blieb mir nichts
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