Sumerki - Daemmerung Roman
selbst mir die Knie erzitterten, worauf die lauten Rufe des Francisco Balbona ebenso wie das Geräusch seiner Schritte erstarben.
Dass Juan Nachi Cocom jenen von uns, die Francisco Balbona zu Hilfe eilen wollten, in den Weg trat und sagte, der ›sakbe‹ erlaube nur, in eine Richtung zu gehen, und eine Rückkehr sei unmöglich, denn wer zurückweiche, den verschlängen die Dämonen.«
Ich hätte die Übersetzung am liebsten schon früher unterbrochen, nämlich an jener Stelle der Chronik, wo der neue Akteur erwähnt wurde, der jetzt womöglich bereits unter meinem Fenster lauerte. Doch in der Hoffnung, in den folgenden Zeilen eine weitere Information über den Jaguarmenschen zu finden, hatte ich mich noch durch einige weitere Absätze gekämpft. Erst diese letzten Worte - ein grelles Warnlicht, das mir der Autor hinterlassen hatte - streckten mich zu Boden. Ich riss mich los.
Ich wüsste nicht zu sagen, wann genau es geschehen war. Als ich die ersten Seiten des Berichts erblickte und mich bereiterklärte, die Übersetzung zu übernehmen? Oder erst
später, nachdem man mir klargemacht hatte, wie ernst dieses Spiel war, und ich die Gelegenheit erhielt auszusteigen? Irgendwann jedenfalls war mir diese Arbeit zur Leidenschaft geworden, sie war der Sinn meines Lebens, ja mein Leben selbst, ein mit weißen Steinen gepflasterter sakbe , der mich an ein unbekanntes Ziel führte und mir mit jedem neuen Schritt neue Kräfte raubte.
War sich der Autor bewusst gewesen, dass sein Tagebuch über magische Kräfte verfügte, die den unachtsamen Leser wie die Tentakel eines mythischen Riesenkraken ergriffen und ihn mitsamt seinem grauen Alltag in den Malstrom einer fantastischen, farbenprächtigen Erzählung à la Garcia Márquez hinabzogen?
Hatte er am Ende selbst seiner Schöpfung diese Kraft verliehen? Die Antworten auf diese Fragen, die wie Bienen im Stock unruhig in meinem Kopf umherschwirrten, hoffte ich am Ende des Tagebuchs zu finden. Das Buch selbst schien mich anzutreiben, mich zu locken mit all den Ködern, die es zwischen den Zeilen auslegte. Doch je mehr ich mich davon verführen ließ, desto mehr verstrickte ich mich in immer neuen Fangschlingen, während die ersehnten Antworten noch immer vage irgendwo am Horizont vor sich hin flimmerten wie eine Fata Morgana.
Vielleicht aber war dieses endlose Hinauszögern der klärenden Worte auch eine der Prüfungen, die ich zu bestehen hatte. Wenn ich meine Enttäuschung überwand und mir das Murren verkniff, hatte ich mir vielleicht am Ende die Auflösung verdient.
Als er die Expedition vor der Umkehr auf dem sakbe warnte, hatte Juan Nachi Cocom in Wahrheit zu mir gesprochen.
Er hatte mir in die Augen geblickt - über fünf Jahrhunderte hinweg. Nichts hatte ihn aufhalten können: weder Bücherstaub noch Verfall, weder die Industrialisierung noch Freud, weder der entwickelte Sozialismus noch Tonnen kurzlebiger Schundromane über die unglaublichen Abenteuer großbusiger Blondinen im südamerikanischen Dschungel - also all das, was meine Vorstellung von der Welt und über den Platz der Maya darin bisher geprägt hatte. Alles, was mich hätte verleiten können, dieses Drama, das sich vor meinen Augen abspielte, als Gauklerstück abzutun und an der Wahrhaftigkeit dieser Erzählung zu zweifeln. Müde, aber entschlossen hatte er sich den Schweiß von der Stirn gewischt und mich von diesen sandfarbenen Seiten herab angesehen, und ich hatte begriffen: Seine Worte, dass ein zauderndes Herz dazu bestimmt war, von Dämonen zerfleischt zu werden - diese Worte galten mir.
Es war zu spät für einen Rückzug. Irgendwo weit, weit über mir war die Tür, mit der mein Abstieg in dieses Verlies begonnen hatte, krachend ins Schloss gefallen. Ich hatte mich von dem Spiel hineinziehen lassen und die vielen Warnungen, die das Tagebuch enthielt, einfach missachtet. Wenn ich Juan Nachi Cocom Glauben schenkte, so bestand meine letzte Rettung darin, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen.
Bevor ich meine kurze Rast beendete und mich erneut in den Dschungel aus komplizierten altspanischen Adverbialpartizipien stürzte, um mich mit meiner Machete durch das Geflecht aus indianischem Aberglauben und den schon fast jesuitisch anmutenden Intrigen der Franziskanerbrüder zu
schlagen, beschloss ich, meinen Gegner etwas genauer zu studieren. Wer war dieser Jaguarmensch?
Kümmerling zuckte hilflos mit den Schultern. In dem Kapitel »Religion und Mythen der Maya« beschränkte sich das Schlitzohr auf
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