Sumerki - Daemmerung Roman
werde sich bald auf den Weg in die Unterwelt machen; ich aber sei nach seinem Verständnis, derjenige dem er diese Botschaft übergeben müsse. Dass er, als er Maní verließ und sich der Expedition anschloss, selbst vieles noch nicht gewusst habe, was sich ihm im Verlaufe unserer Reise eröffnet habe, durch Träume und Visionen. Dass auch ich von einer unsichtbaren Hand geleitet werde, weshalb ich ihn vor Mördern und vor dem Zorn der Kameraden bewahrt habe. Dass ich jene Botschaft eines Tages erkennen würde und es alsdann meine Pflicht sein würde, diese weiterzugeben.«
LA REVELACIÓN
I ch muss gestehen, dass ich die Bedeutung des soeben Gelesenen nicht gleich begriff. Ich ahnte nicht, welch kosmische Tragweite die Ereignisse im Tagebuch hatten und wie stark jenes rostige, jahrtausendealte Getriebe war, das alles in Bewegung hielt.
Ich war einfach zu sehr damit beschäftigt, die einzelnen Bausteine verbotenen Wissens nach und nach zu einem schwankenden Turm der Erkenntnis aufzuschichten. Noch war ich nicht in der Lage, von dieser Arbeit aufzusehen und gleich einem Architekten den Blick über das Gebilde schweifen zu lassen, um darin die Konturen des künftigen Bauwerks zu erkennen.
Fast alle Ziegel lagen bereits fertig gebrannt zu meinen Füßen. Nun musste ich nur noch jeden von ihnen an seinen Platz hieven, um sodann den Balkon des errichteten Turms zu erklimmen und von dort die Welt aus neuer, zuvor unerreichbarer Höhe zu betrachten. Doch aus irgendeinem Grund zögerte ich diesen Moment hinaus, rührte gedankenverloren in meinem Mörtel herum und rückte zum hundertsten Mal die bereits sortierten Steine zurecht. Vor meinen Füßen zu Boden zu blicken war beruhigender als darüber nachzudenken, wohin der Weg führte, den ich eingeschlagen hatte.
Der Autor des Tagebuchs schien inzwischen den Glauben an meine Kombinationsgabe verloren zu haben und
war von verschleierten Andeutungen und Bilderrätseln zu allgemein verständlichen Erklärungen übergegangen. Trotzdem steckte ich immer noch den Kopf in den Sand und tat, als ob ich nichts begriff.
In den ersten Minuten erfüllten mich zudem einfach Glück und Stolz, denn ich schien alle Prüfungen bestanden zu haben, und der Berichterstatter hatte endlich den Schleier von seinem wichtigsten Geheimnis gelüftet. Nun wusste ich: Nicht nach goldenen Schmuckstücken oder kostbaren Edelsteinen hatte es Diego de Landa gelüstet, nicht um der Erlangung verlorener Maya-Schätze willen hatte der Bischof von Yucatán Dutzende spanischer Konquistadoren der Selva geopfert. Nein, er griff nach einem noch viel wertvolleren Schatz: Das alte Manuskript war ein magisches Artefakt - zumindest war der Franziskaner davon überzeugt gewesen.
In Wahrheit war es dem Guardian von San Antonio darum gegangen, die heiligste Weissagung der Maya-Priester in seine Gewalt zu bringen, und dazu hatte er diese vermessene Operation einfach als Hexenjagd kaschiert. Vielleicht wusste er ja auch etwas über diese verschollene Chronik, wovon der Indio-Wegführer nichts ahnte. Die beeindruckende Truppe, die Diego de Landa der Expedition nach Calakmul zur Seite gestellt hatte (ich war ebenso wie Juan Nachi Cocom davon überzeugt, dass die Abteilung sich dorthinbewegte), zeugte von der Wichtigkeit der Mission, die der Autor des Berichts zu erfüllen hatte.
Doch was war der Grund? Ich konnte mir nur einen denken: Macht. Die Weissagungen der nahenden Apokalypse waren sicher nicht die einzigen Informationen, die man aus dieser geheimnisvollen »Chronik« erhalten konnte. Wenn
Bischof de Landa tatsächlich glaubte, damit in die Zukunft blicken zu können, so erhoffte er sich vermutlich Antworten auf viele Fragen, die die spanischen Eroberungen in Yucatán, aber auch das Schicksal der ganzen Welt betrafen. Überhaupt hatte die ganze Geschichte einen politischen Beigeschmack: Wer immer diese angeblich einzig wahre Prophezeiung in Händen hielt, hatte die Macht, sie teilweise oder ganz preiszugeben, getreu der Wahrheit oder auch nicht, konnte sie zu seinen Gunsten auslegen und damit die hörigen Indios manipulieren. Gab es ein mächtigeres Instrument zur Unterwerfung aufrührerischer Ungläubiger, als die Einrichtung eines Monopols auf die Interpretation ihrer heiligen Schrift?
Die Worte des Chronisten am Ende des Kapitels dienten ganz offensichtlich dazu, die Neugier des Lesers zu reizen und seine Fantasie zu entzünden, ihm also zu verstehen zu geben, dass die Geschichte noch nicht zu Ende war. Zwar
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