Summer Sisters
nicht rühren.
Die ganze Zeit über hatte sie instinktiv darauf geachtet, dass ihre neuen und ihre alten Freundinnen sich nicht begegneten. Sie hatte sich immer davor gefürchtet, eines Tages mit Polly und Bryn im selben Zimmer zu sein, aber nicht nur, weil sie sich für Polly schämte. Viel mehr noch hatte sie sich davor gefürchtet, dass sie etwas Gemeines zu Polly sagen könnte.
Jo sah auf ihre Hände.
Sie bluteten.
12
»Polly, was ist los? Wieso isst du nichts?«
Polly wandte den Blick von den Thai-Nudeln ab und sah ihre Mutter müde an. »Ich hab einfach... keinen Hunger.«
»Hast du heute Mittag erst so spät gegessen?«
Polly dachte an das Mittagessen. Hatte sie heute Mittag überhaupt etwas gegessen? Sie zuckte die Achseln.
»Hattest du einen schlechten Tag?«
Seit Polly aus Rehoboth Beach zurückgekommen war, hatte sie kaum gegessen und nur wenig gesagt, aber das fiel Dia erst jetzt so richtig auf.
Polly überlegte. Hatte sie einen schlechten Tag gehabt? Sie zuckte wieder die Achseln.
»Was hast du denn heute Nachmittag gemacht?«
Dia war ganz klar bester Laune und trank eine Art Whiskey-Cocktail mit einer Maraschinokirsche.
»Ach, nichts Besonderes. Ich hab gelesen.«
Dia nickte und musterte ihre Tochter prüfend.
»Ist bei Jo irgendwas Schlimmes passiert?«
Dia bekam nicht viel von dem mit, was um sie herum vorging, aber wenn sie etwas mitbekam, fragte sie nach.
Polly zuckte wieder die Achseln.
»Was ist passiert?«
Polly betrachtete die stachelig hochgegelten tintenschwarzen Haare ihrer Mutter und ihr Nasenpiercing.
Was Bryn wohl von ihrer Mutter halten würde? Kannte Bryn noch eine Steigerung von »völlig daneben«?
Wahrscheinlich nicht.
Für Leute wie Bryn war die Welt ganz einfach. Man war entweder normal oder man war ein Freak. Die Normalen waren ein kleiner, ganz klar abgegrenzter Zirkel, und wer dazugehören wollte, musste ganz bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Tat man das nicht, war man ein Freak. Dabei war es völlig egal, was für ein Freak man war oder warum. Es gab keine Unterschiede oder Abstufungen. Man war einer oder man war keiner, eine andere Möglichkeit gab es nicht.
Polly dachte daran, wie Jo sich in der Vierten an Halloween mal als Pippi Langstrumpf verkleidet hatte und auf einem Riesenpferd herumgeturnt war, das sie aus Pappmaché gebastelt hatte, oder wie sie ihrer Weide auf der Geige etwas vorgespielt hatte. War Jo denn normal? Wollte sie das überhaupt sein?
»Jo hat da unten viele Freunde«, sagte Polly. »Die arbeiten alle im selben Restaurant wie sie.«
Dia nickte verständnisvoll. »Und du hattest das Gefühl, du passt da nicht dazu?«
Polly wusste, dass das eins von Dias Lieblingsthemen war. Dia hatte es zu ihrer Lebensaufgabe gemacht, nicht dazuzupassen. Ich zeig euch, was ein Freak ist, schien ihre Mutter mit ihrer Kleidung, ihrer Frisur und ihren Skulpturen zu sagen.
Polly schüttelte den Kopf.
»Mach dir mal keine Sorgen wegen den neuen Freundinnen.« Dia wedelte mit dem Stiel ihrer Kirsche. »Mädchen wie wir sind verdammt viel interessanter. Das kannst du mir glauben.«
Polly nickte wieder, aber sie war sich nicht sicher, ob sie ein Mädchen wie wir sein wollte. Sie wollte nicht interessant sein. Vielleicht war das toll, wenn man erwachsen war und alles selber
bestimmen konnte, aber auf der Highschool war interessant sein überhaupt nicht witzig.
Sie fragte sich, was passieren würde, wenn sie noch ein paar Kilo abnahm und anfangen würde, als Model zu arbeiten. Wenn sie das richtige Profi-Foto von sich hätte, das jede Teilnehmerin am Ende des Model-Kurses bekommen würde. Wenn sie dann den ersten Model-Job bekäme.
Und wenn Bryn sie dann in einer Zeitschrift sah. Wenn Jo sie sah? Und wenn sie wüssten, dass schon ihre Großmutter ein Model gewesen war, sogar ein berühmtes? Was würden sie dann denken?
Dia stand auf und mixte sich noch einen Drink. Als sie sich wieder setzte, sah sie ernst aus.
»Aber ich bin doch ganz schön überrascht von Jo. Und auch von Ama.«
»Was meinst du damit?«
»Viele Freundschaften gehen auseinander, wenn man älter wird«, sagte Dia weise. »Die meisten Jugendlichen werden auf der Highschool so intolerant. Wahrscheinlich gehört das bei vielen einfach dazu. Aber ich hätte gedacht, bei euch dreien wäre das anders.«
Das hab ich auch gedacht , dachte Polly.
»Candice hat mich gefragt, ob ich bald ein paar Tage zu ihr nach Baltimore kommen will. Ich soll ihren neuen Freund
Weitere Kostenlose Bücher