Summer Westin: Verhängnisvolle Spuren (German Edition)
Russell befreite.
Im dichten Dunst des Spielzimmers konnte Sam kaum die kleine Gestalt erkennen.
»Mammmiiii!«, schrie der Junge.
Perez klappte der Kiefer runter. »Verdammt noch mal …«
Sam stolperte nach vorn und schob eine Welle vor sich her wie ein Dampfer. Als sie näherkam, sah sie, dass der Junge auf dem Boden einer vom Wasser ausgespülten Felsnische kniete. Es musste einen Weg geben, die wenigen Zentimeter zu ihm zu gelangen. Sie stellte den Fuß auf einen Vorsprung, stemmte sich ein wenig hoch und streckte die Hand aus.
Der Junge spreizte die kleinen Finger. Eine Sekunde lang spürte sie die Berührung – federleicht und warm, wie der Kuss eines Schmetterlings – dann fiel sie zurück ins Wasser. Der Junge lebte. Er stand auf, steckte den Daumen in den Mund und sah sie erstaunt an.
Sie bemühte sich, Wärme in ihre Stimme zu legen. »Zack?«
Er verzog das Gesicht. »Pu-Katzi«, wimmerte er.
»Richtig«, sagte sie. »Komm her zu mir, Zack, dann suchen wir zusammen nach einem Katzibild.«
Er blieb außerhalb ihrer Reichweite. »Will zu Mami.«
Sie versuchte es noch einmal, fand zentimeterbreite Tritte für ihre Stiefel, drückte sich eng an die Wand und streckte sich. Das blonde Kind trug ein durchweichtes Winnie-Pooh-Sweatshirt und zerrissene, rote Trainingshosen wie auf dem Parkplatz, an einem Fuß steckte ein roter Turnschuh. Sam stellte ihren Rucksack auf den Vorsprung und versuchte erneut hochzuklettern, aber es klappte nicht.
»Komm her, Zack«, lockte sie und schlug mit der Hand auf die Rucksackklappe. »Setz dich hin und rutsch rüber, damit ich dich erreichen kann. Dann bringe ich dich zu deiner Mami.«
Das Kind sah sie einen Moment unsicher an, dann krabbelte es zögerlich nach vorn. Ja, Zack, weiter so! Ungeduldig schlug sie auf einen Stein.
Eine dunkle Gestalt tauchte hinter dem Kind auf. Eine große Hand schob sich um die Taille des Jungen und zog ihn zurück. Zack schrie auf.
Der Mann war sehr dünn, man sah deutlich die Rippen über dem abgetragenen Ledergürtel, der die zerschlissenen Jeansshorts auf den Hüften hielt. Er war nicht glattrasiert wie damals, als sie sich begegnet waren, sondern hatte dunkle Bartstoppeln auf den Wangen.
»Charlie«, japste sie.
»Kojoten-Charlie?«, kam Perez’ Stimme von hinten.
Charlie zögerte, der glasige Blick glitt zwischen Sam und dem FBI-Beamten hin und her. Sein Gesichtsausdruck war nicht mehr ruhig und abgeklärt, sondern panisch und orientierungslos. Er knurrte wie ein Tier und riss Zack an sich. Hielt das zappelnde Kind an den Oberkörper gedrückt, die blassen Augen nun auf den Polizisten gerichtet.
»Charlie!«, versuchte es Perez erneut. »Bleiben Sie stehen!« Sam wusste, dass das leise Zischen, das sie hinter sich vernommen hatte, von Perez Ellbogen stammte, der am Nylonrucksack schabte. Er hatte nach seiner Pistole gegriffen.
»Nein, Sie sind nicht Charlie.« Nun fiel es ihr wieder ein. »Sie sind Davinski.« Wolf Davinski, Mitglied der Earth Spirits; Karl Jacob Davinski, zweiunddreißig, gesucht in Oregon wegen Zerstörung von Baumaschinen; BJB + KJD eingeritzt in eine Wand der Ruinen. »Karl Davinski.«
Davinski trat einen Schritt näher. Seine Augen hatten einen irren Blick, zuckten von ihr zu Perez und dann wieder zu ihr. Auf dem Wanderweg war er ihr so sanft erschienen. War er schizophren?
»Alles in Ordnung, Karl?«, fragte Perez, als würde er den Mann schon lange kennen. »Lassen Sie Zachary gehen. Setzen Sie ihn wieder ab. Es ist noch nicht zu spät, um die Sache ins Reine zu bringen. Setzen Sie das Kind ab.«
»Ich wollte mich noch bei Ihnen für den Energieriegel bedanken«, sagte Sam. »Und für die Nüsse.«
»Cashewkerne«, spuckte er und presste das zappelnde Kind an die Brust, hielt es nur mit Mühe fest.
»Stimmt, Cashewkerne. Und auf dem Wanderweg haben Sie mir Trauben gegeben.« Wie konnte sie seine Aufmerksamkeit gewinnen, um ihn von Perez abzulenken? Sie holte die Kamera heraus und richtete den Sucher auf Davínski.
Zack drehte den Kopf nach hinten und biss den Mann in die bloße Brust. Davinski hielt den Jungen mit ausgestreckten Armen in die Luft und schüttelte ihn. »Lass das, David!«
»Das ist nicht David. Das ist Zack.« Sie versuchte, ruhig zu klingen. »Und er will nach Hause zu seiner Mutter, nicht wahr, Zack?«
Zack ruderte mit den Armen heftig auf und ab. »David!«, kreischte der Mann. »Das ist David!«
»Mammmmiiii!«, schrie der Junge.
Sam schoss ein Foto. Der Blitz
Weitere Kostenlose Bücher