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Sumpfblüten

Sumpfblüten

Titel: Sumpfblüten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hiaasen
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über eine kantige Austernbank. Er hoffte, sich so zu positionieren, dass er das erste vorüberfahrende Boot anhalten konnte, doch natürlich würden keine Boote kommen. Nur Dopeschmuggler und Wilderer fuhren bei Nacht durch die Ten Thousand Islands, und die waren nicht gerade für ihren Samaritergeist bekannt.
    Das flache Wasser war unruhig und kalt, und Shreave begann in seiner zum Sportdress hochgejubelten Unterhose zu zittern. Als sich die Dunkelheit um ihn schloss, benutzte er Honeys Stirnlampe, um die verschlungenen Baumreihen nach dem bedrohlichen Glimmen von Panteraugen abzusuchen. Was er stattdessen erblickte, war ein orangefarbenes Kanu, das zwischen den langen, dünnen Wurzeln klemmte.
    Freudig erregt zerrte Shreave das Boot ins Wasser hinaus und konnte beim vierten Versuch bäuchlings über den Rand kriechen. Mit seinen zerschrammten Händen packte er das Paddel und fühlte ein Aufwallen des Entzückens – endlich würde er hier wegkommen.
    Mit ebenso viel Eifer wie Ungeschicklichkeit wühlte er sich durch den Dismal Key Pass. Trotz des schwachen Gezeitenstroms verbrauchte er mehr Energie damit, seinen oszillierenden Kurs zu korrigieren, als das Kanu vorwärtszubewegen. Doch die Anstrengung wärmte ihn und verhalf ihm zu einer Illusion von Geschwindigkeit. Noch nie hatte Shreave sich an etwas so Gewagtem wie einer Flucht versucht, und er bedauerte, dass weder Genie noch Lily dabei waren. Er wiegte sich in dem Glauben, dass sie hin und weg gewesen wären.
    Nach einer Stunde legte er eine Pause ein, um sich auszuruhen, während das Kanu lautlos dahintrieb. Mit erwachender Furcht sann er über die Schwärze der Nacht nach; nichts als Schatten und Sternenlicht und eine bleiche Mondsichel. Weit davon entfernt, die Stille als tröstlich zu empfinden, war Shreave eher gereizt. Es war, als sei er durch einen Tunnel in der Zeit in eine öde, urzeitliche Leere ohne Horizonte gesaugt worden. Er konnte sich nicht erinnern, sich jemals so allein und so fehl am Platz gefühlt zu haben, und er sehnte sich nach Beweisen menschlicher Aufdringlichkeit – einer Autohupe, einem Ghettoblaster, dem hohen Dröhnen eines Düsenjets.
    Da er kein spiritueller Mensch war, erkannte Boyd Shreave in der unendlichen Wildnis, die vor ihm lag, kein Wirken einer göttlichen Hand, in dem Dschungellabyrinth aus Wasserläufen und Inselchen keinen grandiosen Plan. Solche unberührten Naturbilder veranlassten Shreave nicht einmal zu einer Nanosekunde der Innenschau; wenn es um ungezähmte Natur ging, blieb er eisern neugierdefrei und unehrfürchtig. Viel lieber wäre er zu Hause in Fort Worth gewesen, hätte »American Idol« geschaut und sich mit Burritos aus der Mikrowelle vollgestopft.
    Grimmig griff er wieder zum Paddel und machte sich erneut an die Arbeit. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wo er sich befand oder in welche Richtung er fuhr, obgleich er argwöhnte, dass die riesige graue Wasserfläche zu seiner Rechten der Golf von Mexiko war – nicht der richtige Ort für ein mickriges Kanu. Nach einer Stunde schwerfälliger Paddelschläge fühlte er sich furchtbar. Da körperliche Anstrengung ihm völlig fremd war, brannten seine Arme, sein Kreuz schmerzte, und seine Bauchmuskeln waren völlig verkrampft. Er hatte bereits beschlossen, für den Rest der Nacht Schluss zu machen, als er ein Geräusch wie von einem Motor vernahm und das leise Klatschen von Wellen an einem Bootsrumpf. Shreave rammte sich das Paddel zwischen die Knie und fummelte hektisch herum, um die kleine Lampe anzuknipsen, die er sich um die Stirn geschnallt hatte. Wie eine Eule drehte er den Hals und ließ den dünnen weißen Strahl über das Wasser wandern, bis er den Ursprung des Geräuschs ausgemacht hatte: ein kleines Boot mit flachem Boden, das parallel zu seinem Kanu dahintuckerte, ungefähr 75 Meter entfernt. Ein hochgewachsener Mann stand im Heck des Bootes und blickte in die andere Richtung, eine Hand am Steuerruder.
    »Hey!«, rief Shreave. »Hier drüben!«
    Der Mann schien ihn nicht gehört zu haben.
    »Hilfe!« Shreave richtete die Stirnlampe aus, bemühte sich, das Licht auf dem fahrenden Boot zu halten. »Hey, Sie da! Kommen Sie her und holen Sie mich!«, brüllte er.
    Der Mann schaute weiter in die andere Richtung. Shreave war wütend; selbst wenn der Kerl ihn bei dem Motorenlärm nicht hören konnte, sah er doch bestimmt das Flackern der Stirnlampe.
    »Was zum Teufel ist los mit Ihnen?«, schrie er zornig. »Ich hab mich hier draußen verfranst! Ich

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