Suna
und holte ein Bündel Papierseiten hervor, auf denen er sich deutsche Sätze und Wörter notiert hatte. Er suchte ein abgegriffenes Schreiben hervor und gab es Julka.
»Schuh?«, sagte er.
Julka beugte sich über das Papier und tat so, als würde ihr das Lesen dieser Buchstaben, dieser Sprache, überhaupt keine Probleme machen. Der Brief stammte von derselben Firma, für die sie auch angeworben wurde.
»Morgen um 7.00 Uhr, Tor A. Dann meldest du dich bei Frau Jost.«
Er sah sie an und hatte ganz offensichtlich kein Wort verstanden. Sie wiederholte es für ihn auf Türkisch.
»Frau Jost?«, fragte er.
»Jost. Steht hier.«
Sie gab ihm den Brief zurück und betrachtete ihn, während er das Papier sorgfältig zusammenfaltete und wieder in seiner Tasche verschwinden ließ.
Sie dachte an die deutschen Fließbänder, die wahrscheinlich keinen brauchen würden, der so sanft wirkte und tatsächlich Hände hatte wie ein Dichter.
Do ğ an kam zurück mit drei Limonaden. Kamils Hände schlossen sich nun um die Dose. Er zog den Verschluss ab und musste rasch die überquellende klebrige Flüssigkeit mit den Lippen auffangen. Do ğ an und Julka ging es nicht besser, im Gegenteil. Do ğ ans Limonadendose explodierte fast beim Öffnen, und der Inhalt ergoss sich über sein Hemd. Den Rest der Fahrt waren sie lachend damit befasst, seine Kleider in Ordnung zu bringen.
So weit weg von zu Hause gab es keine Konventionen, an die sie sich gebunden fühlen mussten. Da zählten nur der Augenblick und die unausgesprochene Solidarität derjenigen, die ihre Heimat für eine ungewisse Zukunft hinter sich gelassen hatten. Und das Glück, eine getroffen zu haben, mit der man sich in der eigenen Sprache verständigen konnte, und da spielte es keine Rolle, dass eine Frau sich besser auskannte in diesem Deutschland.
Julka stellte sich ganz kurz vor, wie es wäre, Kamil wiederzusehen. Einen Türken. Für sie, die Serbin, oder eher für ihren Bruder, eigentlich unvorstellbar, wenn man die Geschichte bedenkt. Wenn man diese sechshundert Jahre alte Sache aber außen vor ließe, was dann? Sie hörte die Stimme der Tante – schlimmer könnte es nicht kommen! Bulgaren seien schon reichlich in der Familie, aber einen Türken, das hätte noch keine gewagt.
Julka lächelte, und Kamil dachte, es sei wegen ihm, und lächelte auch. Er gab ihr den Ring vom Dosenverschluss und sagte: »Wiedersehen.« Auf Deutsch.
Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Ein Mann mit einem Schild, auf dem der Name der Fabrik gemalt war, stand am Bahnsteig und hatte offensichtlich auf die Brüder und einige andere neue Arbeiter gewartet. Julka schloss sich einer Gruppe von Frauen an, die einer Fabrikmitarbeiterin, ebenfalls mit einem Schild ausgestattet, folgten. Im Gehen schob sie sich gedankenverloren den Aluminiumring über den Zeigefinger.
Sie sahen sich wieder. Am nächsten Morgen.
An Tor A.
»Du?«, sagte Kamil.
Als sie hineingingen, berührten sich ihre Hände im Gedränge.
»Erster Tag«, sagte Julka und hätte sehr gerne noch eine geraucht. Es war kühl, so früh am Morgen.
Vor dem Personalbüro war eine lange Schlange.
»Alle neu?«, fragte Kamil und sah sich erstaunt um.
»Seit wann bist du weg aus der Türkei?«, sagte Julka.
Kamil suchte nach deutschen Wörtern. Aber seine Zettel gaben nicht genügend her.
»Sechs Monate mussten wir in Istanbul warten, dann München«, sagte Kamil schließlich auf Türkisch.
»Weiterleitungsstelle?«, fragte Julka.
»Weiterleitungsstelle«, bestätigte Kamil lachend und brach sich fast die Zunge am komplizierten deutschen Wort.
»Du musst Deutsch lernen«, sagte Julka, »du hast keine Chance so.«
Er lächelte.
»Komm, wir rauchen«, sagte Julka, und sie ließen die Warteschlange einfach hinter sich, gingen zu einem Fenster im Flur, öffneten es und rauchten gemeinsam eine Zigarette.
Sie sahen sich wieder. In der Kneipe und im Gemüseladen. Da standen sie und stellten erstaunt fest, dass sie mit dem serbischen Wort Krompir beim betagten Verkäufer tatsächlich problemlos Kartoffeln bekamen, ohne draufzuzeigen, aber dass man nicht weiterkam, wenn man Paprikagewürz wollte und selbstbewusst versuchte, »Pul Biber « zu erwerben.
Nein, Biber esse man in Deutschland nicht, sagte der Verkäufer hartnäckig und wollte nicht glauben, dass man so etwas in die Suppe streuen konnte, wie Kamil ihm gestenreich klarzumachen versuchte.
Sie lachten noch, als sie den Laden längst verlassen hatten.
»Biber!«, sagte
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