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Suna

Suna

Titel: Suna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ziefle Pia
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hervor, um sie einzukleben. Ruth zog ihres heraus, und wir setzten uns auf den Fußboden, um es wieder einmal durchzublättern. Ruth auf der Babydecke, Ruth lacht, Ruth im Kinderwagen, Ruth und ich bei der Taufe, Ruth im Laufstall, Ruth auf dem Wickeltisch, Ruth lernt krabbeln, Ruth kann stehen, Ruth sagt ihr erstes Wort, in Magdalenas gestochen scharfer Handschrift stand es daneben: Mama.
    Ich stand auf und verlangte mein eigenes Album. Magdalena reichte es mir, aufgeschlagen bei den neuesten Bildern, aber ich wollte es von vorne ansehen. Ganz von vorn. Ich blätterte zur ersten Seite. Ich sah ein lachendes Kind mit einem Kuscheltier im Arm an der Hand von Johannes. »Luisa mit ihrem Hund« stand darunter und ein Datum. Das nächste Bild zeigte ein Kind auf dem Arm von Johannes vor einem Weihnachtsbaum in der Stadt. »Luisas erster Weihnachtsbaum« stand dabei. So ging es weiter. Luisa an Ostern, Luisa im Kindergarten. Bis heute: Luisa geht in die Schule.
    »Mama«, sagte ich und blätterte noch einmal durch meine Bilder, »Mama, hatten wir, als ich ein Baby war, noch keinen Fotoapparat?«
    Die Stille, die dieser Frage folgte, war eine noch nie erlebte. Zwar spielte Ruth, als sei nichts passiert, auf dem Boden mit ihren Puppen, aber aus dem Gesicht meiner Mutter war jede Farbe gewichen. Ich bekam es mit der Angst zu tun und legte das schwere Album vorsorglich auf den Tisch zurück.
    »Johannes!«, rief meine Mutter da, und ich hörte, wie sich die Tür zu seinem Arbeitszimmer öffnete, ich hörte seine Schritte auf der Treppe und sein Knie, das manchmal knackste, ich sah ihn hereinkommen und erschrocken innehalten, als er uns sah.
    »Sie hat gefragt«, sagte Magdalena und deutete auf mich.
    Johannes’ Mund umspielte für den Bruchteil einer Sekunde ein Lächeln, dann wandte er sich zu Magdalena und fragte: »Was hast du gesagt?«
    So erfuhr ich, dass ich nicht aus dem Bauch von Magdalena geboren war (mir war trotz Magdalenas Schwangerschaft überhaupt nicht klar gewesen, dass Kinder aus den Bäuchen ihrer Mütter kommen), sondern aus dem Bauch einer anderen Frau. Einer wahrscheinlich sehr armen Frau. Weswegen ein Amt damals entschieden hätte, dass ich besser bei Eltern aufwachsen sollte, die nicht so arm sind. Man nannte das adoptiert.
    Ich weiß nicht mehr genau, wie ich reagiert habe in diesem Moment. Es war auf der einen Seite wohl traurig, denn Magdalena weinte, als ich sagte »Dann bist du also gar nicht meine richtige Mama?«, aber auf der anderen Seite war es ein Abenteuer. Ich erinnere mich, wie ich vor dem Spiegel im Bad stand und das neue Wort übte.
    Adoption.
    »Ich bin adoptiert«, sagte ich zu meinem Spiegelbild.
    Und zu den anderen Kindern auf der Straße sagte ich: »Ich bin adoptiert und ihr nicht.«
    Mit sechs will man nicht mehr wissen als das, was man sieht. Ich fragte nicht nach meiner anderen Mutter, nicht nach den Umständen. Stattdessen begann ich, mich zu prügeln, zu lügen und im Laden zu stehlen. Bevorzugterweise die weißen Schaumzuckermäuse. Das verbesserte zwar mein Ansehen bei den Nachbarskindern, aber leider nicht bei den Eltern, die so gar nicht erfreut waren, als ich von der Polizei nach Hause gebracht wurde.
    Im darauffolgenden Jahr stellte ich mich einfach geschickter an. Denn es war zu verlockend, gegen die Angst, im nächsten Augenblick aus allem herauszufallen, das unglaublich zufriedenstellende Gefühl zu setzen, das mich erfüllte, wenn ein Raubzug gelungen war.
    In den Sommerferien wurde ich nun zu Irma und Thea geschickt. Dies sei besser für alle Beteiligten, hieß es, und ich hörte, wie Magdalena sagte: »Auch wegen Ruth«, als ich eines der abendlichen Gespräche belauschte.
    Besonders mit Thea verband mich viel. Sie begleitete mich begeistert in Buchhandlungen und Bibliotheken, und sie und Irma lasen mir abwechselnd die Klassiker ihrer Kindheit vor. Irma sprach dabei nicht selten mit sonderbar glitzernden Augen von meinem Großvater Albrecht. Ich lernte schnell, dass man wohl häufig schmerzvoll verliert, was man liebt.
    Irma war zu meinem Leidwesen eine sehr sportliche Großmutter. Wenn sie keine Tagestouren auf die umliegenden Burgen geplant hatte, bei denen uns Johannes gern begleitete und über Landschaftsformen dozierte, jagte sie mich schon morgens um sieben in das örtliche Freibad, damit ich endlich schwimmen lernte (ich hatte panische Angst vor dem Wasser). Bei ihr vergaß ich nie eine Mahlzeit, ich aß sogar ihre sauren Kartoffelrädchen, wenn auch mit

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