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Suna

Suna

Titel: Suna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ziefle Pia
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Mühe.
    Und trotzdem hätte ich das fremde Wort »adoptiert« gerne abgeschüttelt, wie man Kleider ablegt, die einem zu eng sind. Ich wäre gerne als mein eigener Zwilling am nächsten Tag in die Schule gegangen, mit neuem Namen und einer wunderbar makellosen Biographie, wie sie die Nachbarskinder hatten.
    Denn natürlich sah ich die glänzenden Oberflächen dort und die klebrigen pechschwarzen Tiefen bei uns. Aber ich wusste damals noch nicht, dass auch wir, natürlich, eine glänzende Oberfläche besaßen. Magdalena polierte sie ja jeden Tag.
    »Du brauchst Tapetenwechsel«, sagte Großmutter Giese eines Tages entschieden zu Magdalena und überredete meine Eltern, nach Italien in den Urlaub zu fahren. Wir waren noch nie weggefahren, allerhöchstens zum Wandern, und ich freute mich, endlich einen Sommer lang dasselbe zu machen wie alle Kinder aus meiner Klasse.
    »Der Süden, die Wärme, das wird euch guttun«, sagte Giese.
    Johannes sagte: »Jaja, Doltschewita«, und danach knurrend »Sodomundgomorra«.
    Magdalena wollte nach Sodomundgomorra, unbedingt, wie es aussah. Irma versuchte, uns alles auszureden, aber im Gegensatz zu sonst prallten ihre Sticheleien an Magdalena ab.
    Johannes packte eines Tages wirklich den K70 voll, und los ging’s, mit Spucktüten in Reichweite, die Poebene hinunter.
    »Kinder, wirklich, der Fluss hier heißt Po«, sagte Magdalena, und wir lachten, wie Tausende deutsche Kinder lachten, und mein Vater biss sich auf die Lippen, wie Tausende deutsche Familienväter.
    Er wendete unerlaubt auf der Autobahn, weil Magdalena auf der Karte einmal die Ausfahrt nicht gesehen hatte, es war heiß im K70 und draußen auch sehr. Ich vermisste meinen Bücherkoffer, der zu Hause bleiben musste, weil meine Eltern sich geweigert hatten, dreißig Bände Karl May mitzunehmen.
    »Was willst du denn mit all dem Zeug?«, riefen sie beide.
    Heimlich packte ich nur meine zerlesene Winnetou-Trilogie ein und schob sie ganz unten in meine Tasche.
    Es war unsere erste richtige Reise – und unsere letzte.
    Das Ziel hieß doch nicht Sodomundgomorra, der Unterschied war für mein Empfinden jedoch nicht groß.
    Eine Ferienanlage.
    »Herrlich«, sagte Magdalena.
    »Sardinenbüchse«, sagte mein Vater und schleppte die Koffer in ein Haus, das genauso aussah wie alle anderen Häuser drum herum.
    »Wie sollen sich die Kinder zurechtfinden«, schimpfte er.
    Der Nachbar war im Unterhemd (wohl schon einige Tage im selben, mutmaßte Magdalena später) und hatte eine Bierdose in der Hand. Er zeigte damit auf eine vierstellige Nummer neben dem Küchenfenster und sagte: »Für die Kinder, meine hams auch schnell draufgehabt«, und verschwand wieder. »Ist zu heiß hier draußen.«
    Magdalena ging mit Ruth und mir ans Meer, »mal eben kucken«, und erschrak dann doch, wie viele Menschen da waren.
    Am Strand kam einer um die Ecke und wollte Kokosnüsse verkaufen. Er sagte sogar auf Deutsch »wer will noch mal, wer hat noch nicht?«, und ich überlegte, wie das geht, etwas noch mal zu wollen, was man noch nicht hatte, und ich fragte meine Eltern, aber die wussten es auch nicht.
    Einmal ging ich mit meinem Vater zum Wasser, ganz früh am Morgen. Wir gingen kilometerweit den Strand entlang, außer uns war noch niemand unterwegs. Er sagte »Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung« und lachte.
    Die Nachbarn waren dann doch einfache Leute. Die grillten. Meine Eltern wiesen mit spitzen Fingern hinüber, um mir und Ruth zu zeigen: So nicht, bitte.
    Sie wiesen oft und gerne mit spitzen Fingern auf Dinge und taten dies auf eine verstohlene Art, als würden sie zeigen und gleichzeitig nicht zeigen, und ich war fasziniert vom Dilemma des Zeigefingers, der sichtbar machen und unsichtbar sein sollte, und vergaß darüber ganz, hinüberzusehen und zu lernen.
    Beim Mittagessen schloss Magdalena rasch die Fenster und doch reckten sie beide die Hälse, während wir Kartoffeln mit Rührei (»Schnelle Küche, ich bin im Urlaub«) aßen und Sätze hörten wie: »Schau, wie dick die Leute sind, und trotzdem stopfen die sich fettige Lappen in den Mund.«
    »Und erst das minderwertige Fleisch«, sagte mein Vater, das war in der letzten Zeit ein Thema für ihn. Es stand zu befürchten, dass er jetzt einsteigen und für eine Weile nicht mehr aufhören würde zu reden über die Menschheit und ihren Beitrag zum baldigen Untergang der Welt, vielleicht den sauren Regen erwähnen würde und das allgemeine Unmaß des Individuums, das alles haben wollte

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