SunQuest - die Komplettausgabe 2800 Seiten zum Sonderpreis: Dies Cygni und Quinterna (German Edition)
gekrochene Ratte, die ein Stück Käse stibitzen wollte.
»Ich, ähm, äh …« Pongs Drachenkörper durchlief eine Farborgie in Wellen von oben nach unten, bis er schließlich fahlbleich wurde. Resigniert ließ er den Kopf hängen und zog einen Flunsch.
»Ich mache dir einen Vorschlag. Ich bewahre diesen wirklich sehr wertvollen Kristall genau hier oben, in meiner Brusttasche auf, wo er dir ganz nahe ist. Du hast ihn sozusagen immer im Blick. Ich gebe dir den Auftrag, darauf aufzupassen, dass er niemals verloren geht, dass ihn niemand stiehlt, oder dass sonst etwas damit passiert. Alles hängt davon ab. Verstehst du?«
Pong hob zaghaft den Kopf. Dann nickte er langsam.
»Du wirst der Hüter des Kristalls sein«, setzte Shanija hinzu, »wie es sich für einen Drachen gehört. Aber wenn ich ihn von dir verlange, wenn ich ihn brauche, wirst du ihn mir geben. Freiwillig. Ich werde ihn nur dann verlangen, wenn er seinen Zweck erfüllen soll oder wenn Gefahr droht. Das verspreche ich dir. Aber wenn es soweit ist, darfst du nicht zögern. Haben wir uns verstanden?«
Pong überlegte einen Augenblick. Dann glitt ein rosiges Strahlen über sein Gesicht, und er grinste breit mit spitzen Zähnen. »Abgemacht!«, rief er und streckte eine krallenbewehrte Klaue aus. Shanija reichte ihm den kleinen Finger, und er packte ihn an der Kuppe und schüttelte ihn mit erstaunlicher Kraft. Mit
sehr
erstaunlicher Kraft. Beinahe hätte er Shanija daran hochgehoben. Er gab den Kristall frei, und Shanija verstaute ihn wie verabredet in der kleinen Brusttasche. Pong flatterte derweil mit den Flügeln und hob schließlich ab. »Levitation! Wie der Affenkönig! Wahnsinnsgeil!«, jubelte er begeistert und taumelte, ein wenig ungelenk, aber zusehends sicherer, auf Shanijas Ausschnitt zu. Kurz darauf spürte Shanija einen kurzen Druck auf der Brust, und als sie über das Dekolleté strich, spürte sie die Erhebung. Pong fühlte sich glatt und fest wie ein echter Schmuckdrache an. Ein in die Haut implantiertes Schmuckstück.
»Dann wollen wir mal«, gab Shanija sich selbst einen Ruck und erhob sich.
In diesem Moment kam Bewegung in den dunklen Müllhaufen hinter ihr.
»O nein«, stieß sie hervor, während sie sich langsam umdrehte. »Das wird jetzt wirklich grotesk.«
4.
Knirschend, ächzend und stöhnend erwachte der Müllhaufen zum Leben. Nicht etwa irgendetwas, das darin lebte und nun im Schutz der Nachtdämmerung hervor gekrochen kam. Nein – der rostende Schrott, dazu stinkende, verwesende organische Reste, verrottende Möbel und Kleidung; das gesamte auseinander gefallene Erbrochene einer Zivilisation zog sich langsam zusammen, als wären irgendwo an dem unförmigen, untrennbar ineinander verkeilten Metallskelett Muskeln befestigt, und richtete sich auf. Wuchs in den düster strahlenden Himmel und verdeckte ihn, als er mindestens zwanzig Meter hoch über Shanija aufragte.
Er stieß Geräusche aus, die aus seinem Inneren kamen und sich als atonale Mischung aus organischem und anorganischem Chaos zusammensetzte, abgehackt in stotterndem Stakkato. Shanija hielt sich die Ohren zu und gab Fersengeld, um aus dem Schatten und der Reichweite dieses unnatürlichen Dings zu kommen. Vielleicht würde es in sich zusammenfallen, wenn es die Kräfte verließen, und alles, was nicht schnell genug wegkam, unter sich begraben, zu einer breiigen Masse zerschlagen, die vom organischen Moder absorbiert wurde.
Darüber nachzudenken, was genau sich hier abspielte, hatte keinen Sinn; dies war ein Hindernis, vielleicht sogar ein Gegner, dem Shanija sich nicht stellen konnte. Desorientiert, ohne Waffen, ohne überhaupt irgendein Hilfsmittel, blieb ihr nur die Flucht.
Sie konnte ohne Übertreibung von sich behaupten, schon eine Menge gesehen zu haben, was die meisten Straßenbewohner von WY-State in ihrem ganzen Leben nicht erfuhren, selbst wenn man alle zusammenfasste. Aber das hier übertraf wirklich alles. Wahrscheinlich, schoss es Shanija durch den Kopf, war sie längst tot, und dies hier, weil sie an nichts von all dem glaubte, war weder Himmel noch Hölle, Nirwana oder Limbo. Wahrscheinlich kamen Seelen wie die ihre hierher, die irgendwo im All verloren gingen, weil sie nie genug Glauben besessen hatten, um in ein Leben nach dem Tode aufgenommen zu werden. Die eine willkommene Beute für Seelenfänger waren, die sich einen Spaß daraus machten, diese verirrten Seelen ordentlich aufzumischen. Und ihnen zu beweisen, dass es eben mit dem
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