Super-Brain - angewandte Neurowissenschaften gegen Alzheimer, Depression, Übergewicht und Angst
Menschen keine Flügel haben, können wir uns die Erfahrungswelt eines Kolibris schwerlich vorstellen. Der Blick aus dem Fenster eines Flugzeugs ist ganz und gar nicht dasselbe, als würden wir selbst fliegen. Ein Vogel geht in den Sturzflug, er taucht, er erreicht im Flug ein Gleichgewicht, er hält sämtliche Richtungen im Blick und vieles mehr. Ein Kolibrigehirn koordiniert eine Geschwindigkeit von bis zu 80 Flügelschlägen in der Sekunde und eine Herzfrequenz von über 1000 Schlägen pro Minute. In eine derartige Erfahrung kann ein Mensch sich nicht hineinversetzen – letztlich ist der Kolibri so etwas wie ein pulsierendes Gyroskop, [4] das inmitten eines wirbelnden Flügeltornados im Gleichgewicht gehalten wird. Um ins Staunen zu geraten, brauchen Sie sich nur ein Verzeichnis der Vogelrekorde anzusehen. Der kleinste Vogel, der kubanische Bienenkolibri, wiegt 1,8 g; das entspricht etwas mehr als dreiviertel dessen, was eine 1-Eurocent-Münze wiegt (nämlich 2,3 g). Dennoch hat er im Grunde die gleiche Physiologie wie der flugunfähige afrikanische Strauß, der ein Gewicht von bis zu 135 kg erreichen kann.
Um die Wirklichkeit erkunden zu können, muss das Nervensystem mit der neuen Erfahrung mithalten, sie nachverfolgen und zugleich die Kontrolle über den restlichen Körper behalten. Das Nervensystem eines Vogels kundschaftet noch aus, was weit hinten am (Vogelperspektiven-)Horizont wahrnehmbar ist. Darüber hinaus bringen Wasservögel zum Beispiel die nötigen Voraussetzungen zum Tauchen mit. Für Kaiserpinguine ist eine Tauchtiefe von 483 m belegt. Und die bislang höchste Geschwindigkeit bei einem Tauchvorgang hat man bei Wanderfalken gemessen. Im Rahmen einer in Deutschland vorgenommenen Studie wurden Eintauchgeschwindigkeiten zwischen 257 km/h und 346 km/h ermittelt, je nach Anflugwinkel. Der Körperbau der Vögel hat einen entsprechenden Anpassungsprozess durchlaufen, durch den sich diese Grenzen immer weiter verschieben konnten. Nicht die Flügel oder das Herz sind hier aber der ausschlaggebende Faktor, sondern das Nervensystem. Die Realität des Fliegens wurde, mit anderen Worten, von einem Vogelgehirn erschaffen.
Bezogen auf das menschliche Gehirn trägt dieser Gedanke noch wesentlich weiter. Denn unser Geist verfügt über einen freien Willen, während das Gewahrsein eines Vogels (soweit es unserer Beurteilung zugänglich ist) rein instinktgeleitet funktioniert. Im Erschaffen von Wirklichkeit sind wir Menschen zu einem großen Sprung fähig.
Doch zunächst mal eine Anmerkung zu einem Punkt, der Deepak besonders am Herzen liegt: Zu sagen, dass das Gehirn einen Gedanken, eine Erfahrung oder eine Wahrnehmung » hervorbringt « oder » erschafft « , ist ebenso wenig korrekt, als würde man sagen, ein Radio bringe die Musik von Mozart hervor, ein Klavierkonzert von Mozart sei also die Schöpfung des Radios. Die Rolle des Gehirns, ähnlich jener der Transistoren in einem Radio, besteht darin, eine physische Struktur für die Übermittlung von Gedanken bereitzustellen; so wie das Radio Ihnen das Musikhören ermöglicht. Wenn Sie eine Rose erblicken, ihren verschwenderischen Duft riechen und über ihre samtigen Blütenblätter streichen, ergeben sich in Ihrem Gehirn alle möglichen Wechselbeziehungen. Deren Zustandekommen lässt sich mit den Mitteln der funktionellen Magnetresonanztomografie sichtbar machen. Weder sieht Ihr Gehirn jedoch die Rose noch riecht oder berührt es sie. All das sind Erfahrungen und die können nur Sie machen. Eine ganz entscheidende Tatsache, die zeigt, dass Sie mehr sind als Ihr Gehirn.
Um den Unterschied noch deutlicher zu machen: In den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts stimulierte ein Hirnchirurg namens Wilder Penfield jenes Hirnareal, das wir als den motorischen Kortex bezeichnen. Führt man dem motorischen Kortex eine winzige elektrische Ladung zu, dann ruft das, so fand Penfield heraus, Muskelbewegungen hervor. (In späteren Untersuchungen wurde dieses Forschungsfeld erweitert. Dem Erinnerungszentrum zugeführte elektrische Impulse können bewirken, dass die Studienteilnehmer lebhafte Erinnerungen haben. Und macht man das Gleiche bei den emotionalen Zentren, lassen sich auf diesem Weg spontane Gefühlsausbrüche hervorrufen.) Allerdings, das wurde Penfield klar, war es unerlässlich, hier zwischen Geist und Gehirn zu unterscheiden. Da das Hirngewebe keinen Schmerz empfindet, kann man sogar chirurgische Eingriffe am offenen Gehirn vornehmen, während der Patient
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