Supernova
Glas Wein einschenken und sah sich
nach Frank um, aber er hatte sich verdünnisiert, als das
Empfangskomitee Wednesday begrüßt hatte. Sei auf
Probleme gefasst. Klar, aber welcher Art?
In einem Seitenraum der Botschaft standen die Schiebetüren
mittlerweile offen. Zwei Stabsleute stellten dort Stuhlreihen auf,
die bis auf den gepflegten Rasen hinausreichten. Die hintere Wand des
Empfangsraumes hatte sich in einen riesigen Bildschirm verwandelt,
der eine blau-weiß-grüne Scheibe zeigte, unheimlich
ähnlich derjenigen, die Wednesday vom Orbit aus gesehen hatte,
als sie den Raumfahrstuhl nach unten genommen hatte. Die Scheibe
schwebte inmitten eines Meers von Sternen. Die Heimatwelt, dachte sie trübsinnig. Seit Jahren hatte sie kein richtiges
Heimweh mehr empfunden. Wenn überhaupt, dann hatte sie sich eher
nach Alt-Neufundland zurückgesehnt als nach dieser Welt, auf der
sie geboren war, an die sie jedoch keine konkreten Erinnerungen
hatte. Doch jetzt spürte sie einen gefährlichen Anflug von
Nostalgie, der im Widerstreit mit dem ebenso starken Impuls lag,
zynisch zu reagieren und sich selbst darüber lustig zu machen. Was hat Moskau mir denn je bedeutet? Gleich darauf kamen
quälende Erinnerungen hoch: an ihre Eltern, an
Bürgermeister Pococks Gesichtsausdruck, als sie vor der
Evakuierung die Fahne im Zentrum der Raumstation heruntergezogen
hatten… Zu viele Erinnerungen. Erinnerungen, denen sie nicht
entkommen konnte.
»Die meisten Menschen hören sich die Reden an«,
meldete sich Hermann in ihrer Hörmuschel, »bleiben noch bis
zum gemeinsamen Singen der Nationalhymne da und brechen danach auf,
um sich zu betrinken. Vielleicht hältst du dich an die
Reihenfolge.«
Zwanzig Minuten und ein Weinglas später suchte sich Wednesday
einen Randplatz in der ersten Reihe. Langsam tröpfelten auch die
anderen Gäste ein, es ging hier keineswegs so organisiert zu wie
beim Einmarsch einer Trauergemeinde in eine Friedhofskapelle. Allem
Anschein nach waren einige Besucher ihr im Trinken schon ein paar
Gläser voraus.
Während sich der Raum füllte und sich einige Leute auf
den zusätzlichen Plätzen im Garten verteilten, nahm jemand
neben ihr Platz. »Frank?« Sie sah sich nach ihm um.
»Sind das Ihre Leute?« Als sie seinen Gesichtsausdruck
bemerkte, fragte sie sich, ob auch Frank mit inneren Dämonen zu
kämpfen hatte. Irgendetwas schien ihm schwer zu schaffen zu
machen.
»Was ist los?«, fragte sie.
Er schüttelte abwehrend den Kopf. »Jetzt nicht.«
Sie wandte sich nach vorn. Zwar suchten einige Nachzügler immer
noch nach Plätzen, aber inzwischen hatte sich seitlich vom
Podium eine Tür geöffnet. Eine würdig, wenn auch
leicht dicklich wirkende Frau trat auf die Bühne. Ob sie
mittleren Alters war oder schon mehr als hundert Jahre auf dem Buckel
hatte, hätte Wednesday nicht zu sagen vermocht. Jedenfalls sah
sie genauso aus, wie sie sich eine Botschafterin vorgestellt hatte:
Ihr kastanienbraunes Haar war mit einer Schleife zurückgebunden,
das schwarze, bestickte Jackett weit ausgeschnitten und in der Taille
geknöpft und die mit Diamanten besetzte Amtskette über die
Schulter drapiert. Als die Botschafterin sich räusperte, wurde
ihr Krächzen und Atmen von der Lautsprecheranlage aufgefangen
und dröhnend bis auf den Rasen hinaus übertragen.
»Herzlich willkommen«, begann sie. »Wieder einmal
herzlich willkommen bei uns! Heute ist nach allgemeiner Standardzeit
der fünfte Jahrestag der Katastrophe, die unsere Landsleute das
Leben gekostet oder ins Exil gezwungen hat. Ich…« –
sie zögerte, ihr Gesichtsausdruck war schwer zu deuten –
»… ich weiß, dass jeder der hier Anwesenden, genau
wie ich selbst, das Geschehen nur schwer fassen kann. Wir können
nicht mehr nach Hause zurück, weder jetzt noch irgendwann. Die
Tür ist zugeschlagen, uns sind alle Möglichkeiten dazu
verschlossen. Nur konnten wir kein Gefühl dafür entwickeln,
dass es unwiderruflich zu Ende ist: Es gibt keinen Leichnam, keinen
Sarg und auch keinen Täter, der festgenommen und des Mordes
angeklagt wurde.
Aber…«, sie holte tief Luft, »nun, ich will
versuchen, mich kurz zu fassen… Wir alle sind immer noch da, so
sehr wir auch um unsere Freunde und Verwandten trauern mögen,
die Opfer des Völkermordes geworden sind. Wir selbst haben
überlebt und legen Zeugnis ab. Während wir weitermachen und
unser Leben neu aufbauen, erinnern wir uns stets an unsere Lieben.
Irgendjemand hat unser Zuhause zerstört. Als Vertreterin
Weitere Kostenlose Bücher