Supernova
Genève war das so.
Aus dem Stapel abgelegter Kleidungsstücke drang
plötzlich ein schriller Pfeifton. Ehe Rachel überhaupt
bewusst war, dass sie sich bewegt hatte, beugte sie sich bereits
darüber und suchte nach ihren Interface-Ringen. »Ja?«,
fragte sie mit heiserer Stimme.
»In dieser Sache ist das letzte Wort noch nicht
gesprochen!« Dem gehässigen Tonfall nach zu urteilen, hatte
Madame Vorsitzende die Ereignisse in den Medien verfolgt und
ärgerte sich fürchterlich über irgendetwas –
vermutlich über die Tatsache, dass Rachel noch am Leben war.
»Ich weiß Bescheid über Sie und Ihre Kumpanen vom
Vollzugsdienst! Glauben Sie bloß nicht, dass Sie auf die
gleiche Weise aus der Anhörung herauskommen!«
»Oh, verpiss dich!« Rachel unterbrach die Verbindung. Dich nehm ich mir später vor, dachte sie benommen,
während sie sich an den Türrahmen lehnte. Werd schon
noch herausfinden, welches Spielchen du treibst, und dich darin
schlagen… Sie versuchte sich zusammenzureißen, denn
die Paranoia drohte sie zu überwältigen. »Inspektorin
MacDougal, könnten Sie wohl dafür sorgen, dass mich jemand
nach Hause bringt? Ich glaube, ich kippe um.« Lachend und
gleichzeitig weinend glitt sie an der Wand hinunter. Auf der anderen
Seite des Zimmers hielt eine nackte Dame von der Polizei
triumphierend etwas hoch, das wie ein gut gefülltes
Waffenmagazin aussah. Alle anderen waren offenbar in Jubelstimmung,
aber Rachel sah, weiß Gott, keinerlei Anlass dazu.
magical mystery tour
Vor MEHR ALS einem Jahr, mitten in einem Einsatz vor Ort, der
schnell in jeder Hinsicht eine böse Wendung nahm, hatte Rachel
einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Die Entität, mit der
dieser Handel besiegelt worden war, hatte tatsächlich die Macht,
ganze Welten zu zerstören. Was noch beunruhigender war:
Später hatte Rachel gemerkt, dass sie dieses Abkommen keineswegs
bedauerte. In der Zeit nach der Singularität schien es so, als
wäre das Eschaton von der Erde verschwunden.
Zurückgeblieben waren ein amputiertes globales Netz,
entvölkerte Städte, die allgemeinen Nachwirkungen einer
Katastrophe, die den ganzen Erdball erschüttert hatte – und
drei Gebote, die in einen Kubus aus solidem Diamant mit zehn Metern
Breite eingraviert waren:
I – Ich bin das Eschaton. Ich bin nicht
euer Gott.
II – Ich stamme von euch ab und existiere in eurer
Zukunft.
III – Ihr sollt innerhalb meines historischen
Lichtkegels nicht die Kausalität verletzen. Wehe, wenn
doch.
Manche Menschen behaupteten, die Bedeutung
der drei Gebote zu verstehen, während andere meinten, sie
müssten von einem Schwachkopf stammen oder seien schlichtweg
Scharlatanerie. Die Erste Reformierte Tipler-Kirche, benannt nach dem
Astrophysiker Tipler, [1] trug die Kontroverse mit der Reformierten Kirche der Heiligen der
Letzten Tage auf der Straße aus. Der Islam verlor mehr und mehr
an Bedeutung, während andere Religionen so schnell auftauchten,
wie sie wieder verschwanden. Informatiker – es waren nur noch
wenige übrig geblieben; aus irgendeinem Grund hatte das Eschaton
sie offenbar vorzugsweise zur Deportation ausgewählt –
gingen mit verrückten Hypothesen an die Öffentlichkeit:
Demnach war das Eschaton eine Software, die als künstliche
Intelligenz aufgrund von irgendeinem Algorithmus
Empfindungsvermögen und Selbst-Bewusstsein entwickelt hatte.
Über Internet habe sich das Eschaton rapide verbreitet und
innerhalb von Minuten oder Stunden so viel Denkkapazität
erworben wie ein Mensch vielleicht in einer Million Jahre. Dann sei
es »transzendiert«, habe eine Stufe der Intelligenz
erreicht, über die man schlicht nur spekulieren könne,
einen Intellekt erworben, der gegenüber dem eines Menschen wohl
so überlegen sei wie vergleichsweise der Intellekt eines
Menschen gegenüber einem Frosch. Folglich seien seine Handlungen
von Motiven gespeist, die wahrscheinlich kein Mensch erraten oder
verstehen könne. Wie es ihm gelungen sei, makroskopische
Wurmlöcher in der Raumzeit zu öffnen – etwas, von dem
die Wissenschaftler der Spezies Mensch nicht den blassesten Schimmer
hätten –, bleibe sein Geheimnis.
Die merkwürdigen Bezüge auf den historischen Lichtkegel
ergaben für mehr als hundert Jahre keinen Sinn – bis zur
ersten erfolgreichen Konstruktion eines Raumschiffs, das mit
Überlichtgeschwindigkeit fliegen konnte. Danach fügte sich
das Puzzle nach und nach zusammen. Das Universum wimmelte nur so von
Welten, die von Menschen besiedelt
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