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Survive

Survive

Titel: Survive Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Morel
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er nach vorn gekrümmt und ich an das Waschbecken gelehnt, und sehen uns einen langen Moment an.
    »Ich werde nicht vor dir pinkeln«, stelle ich klar.
    »Verstehe.«
    Er steigt in seine Stiefel und schnürt sie zu. Er zieht die Tür auf und schaut zu mir zurück. »Lass dir nicht zu lange Zeit, es ist bitterkalt hier draußen.«
    Er tritt hinaus ins Licht und macht die Tür zu. Ich weiß, dass er immer noch alles hören kann, und Zuhören ist fast noch schlimmer als Zusehen. So oder so, ich habe auf einmal so was wie Lampenfieber.
    »Sing etwas«, rufe ich.
    »Was?«
    »Ich sagte, du sollst etwas singen, damit du mich nicht pinkeln hörst.«
    »Das ist lächerlich.«
    »Sing, oder ich werde nicht pinkeln.« Ich fange an, mit dem Fuß gegen die Tür zu treten. »Und ich werde dich nicht hereinlassen.«
    Er räuspert sich und stimmt dann ein Lied an. »Every cheap hood strikes a bargain with the world, ends up making payments on a sofa or a girl … Death or glory, just another story … «
    Ich pinkle sofort los – das herrlichste Gefühl der Erleichterung, das ich je im Leben verspürt habe. Als ich fertig bin, nehme ich den Fuß von der Tür, stehe auf und bringe meine Kleider in Ordnung. Dann öffne ich die Tür einen Spalt, um anzudeuten, dass ich fertig bin. Paul springt schnell herein und drückt die Tür zu. Wir stehen einander gegenüber. Ganz dicht. Mein Scheitel reicht ihm nur bis zum Kinn, das voll schwarzer und stoppeliger Haare ist.
    Ich blicke in seine blauen Augen.
    »Es ist sehr kalt«, bemerkt er.
    »Hätte ich nicht gedacht.«
    »Wie sarkastisch du sein kannst.«
    »Stimmt.«
    »Nun ja, es ist nicht einfach kalt. Es ist bitterkalt. Zweistellige Minusgrade. Mindestens. Kälter als kalt.«
    »Das sagt mir absolut nichts«, gebe ich zurück.
    »Willst du es genau wissen?«
    »Ja, will ich.«
    »Also gut«, murmelt er. »Meine Pisse – sie ist in dem Moment gefroren, als sie den Schnee berührt hat. Es ist eiskalt. Die Temperaturen müssen in der letzten Nacht um zwanzig, dreißig Grad gefallen sein.« Er hält inne. »Und der Wind wirbelt den Schnee und das Eis herum, es fühlt sich an wie fliegende Nadeln im Gesicht.«
    »Bald wird uns bestimmt jemand finden, was meinst du?«
    »Ich würde mich nicht darauf verlassen.«
    »Aber sie müssen wissen, dass wir abgestürzt sind. Es werden immer Leute gefunden, wenn sie abgestürzt sind.«
    »Nicht in einem Schneesturm und auf einem Berg in der Bob-Marshall-Wildnis«, sagt er. »Selbst wenn sie wüssten, wo wir sind, könnten Tage oder gar Wochen vergehen, bis Bergsteiger hier oben ankommen … Bei dieser Menge Schnee kann es Wochen, vielleicht Monate dauern, bis man uns findet.«
    »In der Bob- was?«
    »In der Bob-Marshall-Wildnis. Es gibt keine Straßen. Nur vierhundert Quadratkilometer Berge, und ich nehme an, wir sind irgendwo mittendrin gelandet.«
    »Wie können wir von hier wegkommen?«
    »Ich weiß noch nicht genau. Aber hier werden sie uns nie finden«, meint er sehr ernst.
    »Wenn du mir Angst machen willst, musst du dir schon was Besseres einfallen lassen«, erwidere ich und denke dabei an die Schnittwunden und das Blut und den Schmerz, all die Dinge, die mich überhaupt erst nach Life House gebracht haben. Sich selbst dabei zu beobachten, wie man langsam stirbt, und nichts dagegen zu tun, klingt für mich nur allzu vertraut. Der Tod durch Erfrieren scheint mir da im Grunde sogar eine ziemlich simple Sache zu sein.
    »Weißt du, was passiert, wenn man an Dehydrierung stirbt?«
    »Ich glaube schon.« Jetzt fängt er doch an, mir Angst zu machen, weil ich solchen Durst habe. Mein Speichel klebt mir wie Kleister an Zunge und Wangen.
    »Gut, so sieht es also aus: Du kannst Schnee essen und erfrieren, oder wir können hierbleiben und verdursten.«
    »Gibt es keine dritte Möglichkeit?«
    »Das Flugzeug. Wir müssen es gründlich durchsuchen und uns jeden Tropfen Wasser, jeden Brocken Essen und jedes Stück Ausrüstung, das wir finden können, unter den Nagel reißen.«
    »Und danach?«
    »Das werden wir entscheiden, wenn es so weit ist.«

Kapitel 19
    Überfluss wäre wohl kaum das richtige Wort, um zu beschreiben, was wir beim Durchstöbern des Gepäcks (ich) und der im Flugzeug verbliebenen Leichen (Paul) gefunden haben. Wir haben vier Schokoriegel gefunden, eine Packung Kaugummi (von der altmodischen Art mit Zucker), Hustensirup, Schlaftabletten (die hat Paul eingesteckt), Paracetamol-Schmerztabletten, ein Feuerzeug, einige Plastik-Mülltüten

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