Survive
Ich habe noch nie im Leben etwas so Köstliches getrunken. Ich sehe Paul an, als er seinen ersten Schluck nimmt, und weiß sofort, dass er das Gleiche denkt wie ich, nämlich dass es ihm so vorkommt, als sei er noch nie zuvor wirklich durstig gewesen. Genauso wenig habe ich je richtig zu schätzen gewusst, wie wunderbar Wasser ist. Ich muss lachen, wenn ich an die Tage in der Anstalt denke, als ich so depressiv war, dass der bloße Gedanke daran, etwas zu trinken oder zu essen, mich noch depressiver gemacht hat. Das kommt mir jetzt unvorstellbar vor.
Wir warten darauf, dass noch mehr Wasser schmilzt. Es geht quälend langsam voran. Aber jeder warme Schluck fühlt sich im Mund und in der Kehle an wie ein Becher voll Himmel. Wir betrachten einander und verstehen, dass jeder kleine Schluck heilig ist, nicht für selbstverständlich genommen werden darf.
Dann beginnt die Flamme zu flackern, einige Minuten lang, und erlischt. Scheiße ist alles, was ich denken kann. Pauls Miene ist ernst.
»Wie lange?«, frage ich, den Blick auf unsere letzte Tasse Wasser gesenkt.
»Tja, wer weiß das schon?«
»Grob geschätzt?«
»Erst wenn das Wetter umschlägt, vorher nicht. Ich würde auf mindestens zwei oder drei Wochen tippen.«
Ich denke an all die Nachrichtenmeldungen über Flugzeugabstürze und muss unwillkürlich an Dinge wie GPS und die Blackbox denken.
»Sollten sie nicht in der Lage sein, uns mit irgendeiner Art von Radar oder so zu finden?«
»Wie im Fernsehen? So funktioniert das nicht. Wir sind in den Bergen und es schneit. Es liegen wahrscheinlich über vierhundert Kilometer zwischen uns und dem, was wir Zivilisation nennen würden.«
»Aber trotzdem«, beharre ich. »Heute kann man doch alles finden.«
»Letztes Jahr ist, ich glaube, es war irgendwo nicht weit von hier, ein zweimotoriges Flugzeug mit vier Passagieren abgestürzt. Im Sommer. Sie haben fast einen Monat gebraucht, um das Wrack zu finden. Ich denke, sie können vermutlich bestimmen, dass es irgendwo hier in der Gegend sein muss, aber ›hier in der Gegend‹ liegt unter einer Schneedecke, umringt von Nadelwäldern und dreißig Meter unter dem Gipfel eines abgelegenen Berges.«
Nachdem er geendet hat, sitzen wir schweigend da. Ich weiß nicht, was ich sagen oder denken soll. Ich will einfach nur glauben, dass wir gerettet werden, aber Pauls Stimme klingt so klar und rational. Er wird es schon wissen, oder?
»Und die Menschen, die damals abgestürzt sind?«, frage ich.
»Beim Aufprall zerquetscht«, antwortet er trocken. »Wir haben ihnen in dieser Hinsicht etwas voraus.«
Zwei Wochen mit vier Schokoriegeln und einer Tasse geschmolzenem Wasser, für die das Butan in der Laterne noch gereicht hat. Ich überschlage unsere Chancen, und das Ergebnis gefällt mir nicht.
»Können wir es schaffen?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Zwei Wochen sind eine lange Zeit.«
»Wir sind hier ein wenig geschützt, aber wir sind zu sehr versteckt – ist es das, was du denkst? Dass es uns hier zwar sicher vorkommt, wir dort oben aber besser dran wären?«, frage ich und deute zum Berggipfel.
»Ja, du hast recht. Aber es wird schwer sein, dort hinaufzukommen. Denkst du, du bist dem gewachsen? Das wird eine ziemlich haarige Kletterpartie.«
»Ich will leben«, erwidere ich, und es klingt irgendwie nach verkehrter Welt. Mein Gott, ich muss ihm wie eine totale Irre vorkommen. Ich wende den Blick ab und lasse ihn über unseren kleinen Raum schweifen. Paul muss meine Verlegenheit spüren, denn er drückt freundschaftlich meinen Arm.
»Das sehe ich.«
Ich nicke. Ich war zu Paul ehrlicher als vielleicht zu jedem anderen Menschen auf der Welt. Ich denke an all meine Sitzungen mit Old Doctor zurück, und ich weiß, dass ich ihm nie erzählt habe, dass ich um jeden Preis meinen Schalter umlegen wollte. Als ich es versucht habe, bevor ich in die Anstalt kam, wollte ich wirklich Erfolg haben. Für eine Sekunde sehe ich mich selbst, wie ich vor zwei Nächten in der Flugzeugtoilette stehe, das Schicksal in meiner Hand. Ich hätte nie auf einen Flugzeugabsturz gehofft, und auch wenn es mich viel trauriger macht, dass andere gestorben sind, bin ich sehr dankbar für diese zweite Chance.
»Es tut mir leid«, sagt er.
»Was tut dir leid?«
»Das mit dem Kopf. Du weißt schon, das Gewitzel. Es war nicht komisch. Ich fand es auch gar nicht komisch. Ich wusste nur nicht, was ich sonst tun sollte. Wenn ich nervös bin, sage ich dumme Sachen.«
Ich reibe eine seiner
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