sus
Hoffentlich kann ich noch Auto fahren.“
„Gut“, sagt Sonia. „Sie werden
sehen, ein Gast wird auch Sie aufmuntern, Natascha.“
„Sollte mich wundern. Ich
schlafe jetzt schon.“
„Aber nein!“
„Was für ein Tag! Na ja, in
unserer Branche...“
„Ich werd Olga anrufen. Sie soll ein Gedeck mehr auflegen.“
„Moment!“ ruft Natascha. „Seien
Sie doch nicht russischer, als es erlaubt ist. Haben Sie sich überlegt, wie Mademoiselle zurück nach Paris kommen soll?“
„Bis ein Uhr nachts gehen Züge,
und wir wohnen doch sozusagen direkt am Bahnhof.“
„Wohnen Sie weit weg?“
erkundige ich mich.
„In Sceaux .
Kennen Sie es?“
„Ja. Besonders Robinson. Ich
war oft dort zum Tanzen.“
„Ach! Robinson“, wiederholt
Natascha höflich. „Entschuldigen Sie mich“, sagt Sonia und geht hinaus.
Natascha stößt einen Seufzer aus. Zum Herzerweichen.
„Sie müssen uns für ziemlich
exzentrisch halten... impulsiv, stimmt’s?“
Ohne mir Zeit zum Antworten zu
lassen, fügt sie, abermals seufzend, hinzu:
„Das ist typisch russisch. Und
noch zwei weitere Dinge sind typisch russisch: Gespräche und Gastfreundschaft.
Werden Sie erwartet? Ich meine nicht jetzt. Ich meine heute nacht .“
„Ich werde von niemandem
erwartet. Ich kann die ganze Nacht über wegbleiben, wenn ich will.“
„Schön, um so besser für Sie, meine Liebe. Würde mich nämlich
wundern, wenn Sie den letzten Zug mitkriegen würden, den um eins. Sie wissen
nicht, was das heißt: ein Gespräch mit einer Russin beginnen. Das sind die
geschwätzigsten Leute der Welt. Und wenn noch ein Samowar in der Nähe steht,
gibt’s praktisch kein Ende. Man merkt gar nicht, wie die Zeit vergeht. Ich
werde Olga zu Hause sagen, sie soll das Gästezimmer herrichten.“
„Ich möchte Ihnen nicht lästig
fallen...“
„Sie fallen mir nicht lästig.
Ich bin todmüde, das ist alles. Werde früh Schlafengehen. Sie dürfen mir
deswegen nicht böse sein. Sonia hat offensichtlich einen Narren an Ihnen
gefressen. Weiß der Teufel, warum. Eine Laune, wie so oft, wenn sie müde ist.
Ich widerspreche ihr dann nie, sonst kriegt sie ihre Depression. Sie ist sehr
erschöpft. Und in letzter Zeit ist sie etwas eigenartig. Das ist aber nichts
Besonderes. Wir sind Entwurzelte...“
Ein sehnsüchtiger Schleier
umwölkt ihren Blick.
„Das Eigenartige ist unser
Schicksal...“
Sie steht auf und kippt Wodka
nach.
„Wenn sie Sie unbedingt zum
Essen einladen will“, sagt sie und setzt sich wieder, „um Ihnen Anekdoten zu
erzählen, dann soll sie’s tun... sie ist sehr launisch, wie ich schon gesagt
habe. Wundern Sie sich nicht, wenn sie Sie in Sceaux gleich wieder loswerden will. Das ist durchaus möglich. Eine neue Laune.“
„Ich möchte Ihnen nicht lästig
werden“, wiederhole ich. Natascha wiederholt nun ihrerseits, daß ich ihr nicht
lästig sei. Es wäre doch schade, wenn ich die Einladung jetzt nicht annehmen
würde. Nein, Natascha ist wirklich nicht drauf aus, den Launen ihrer
Geschäftspartnerin entgegenzuarbeiten.
Gerade kommt Sonia zurück.
„So“, sagt sie, „Olga weiß
Bescheid.“
Sie geht zum Buffet und
genehmigt sich noch einen großzügigen Schluck Wodka. Nach kurzem Zögern nähere
ich mich ebenfalls der Wodkaflasche. Wenn ich’s mir recht überlege, kann mir
ein weiteres Gläschen nicht schaden.
8
Hélènes Bericht (Fortsetzung)
Es ist schon nach acht, als wir
uns in Nataschas Wagen setzen. Ein Kabriolett der Luxusklasse mit sechs Sitzen:
drei vorne, drei hinten. Ich klemme mich zwischen meine russischen Freundinnen.
Natascha sitzt hinterm Steuer.
Das drohende Gewitter hängt
immer noch über Paris. Die Luft ist schwül und feucht. Oder aber ich bin nicht
so recht auf dem Posten. Glaub ich aber nicht. Für die gewittrige Luft gibt es
objektive Beweise, z.B. der bleigraue Himmel.
Wir verlassen Paris durch die
Porte de Châtillon . Sonia wundert sich über die
ungewöhnliche Route. Natascha erklärt ihr, daß sie von dem jungen Mädchen
(Kopfbewegung in meine Richtung) an Robinson erinnert worden sei. Sie müsse
dort noch jemanden treffen. Den Namen kriege ich nicht richtig mit.
Wir fahren durch Châtillon , durch Fontenay - aux -Roses .
Wind kommt auf, warm,
unangenehm. Dreck wird hochgewirbelt. Am Himmel wird es nicht mehr hell.
Langsam bricht die Nacht herein.
Der Jemand, den Natascha
treffen wollte, ist nicht da. Jetzt nehmen wir also Kurs auf Sceaux . Über die Rue Houdan fahren wir in die Stadt hinein. Die
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