Susan Price
war trotz Vater Fillans Angst vor Teufeln gekommen, auch trotz seiner eigenen tief empfundenen Abneigung gegen das ganze Unterfangen, weil die Priesterin in der Anderswelt nach dem Mörder seines Bruders suchen sollte. »Christus wird mir vergeben«, hatte er zu dem Priester gesagt. »Ich muss einfach dabei sein.« Er hatte erwartet, etwas Mysteriöses und Beeindruckendes zu sehen. Stattdessen hatte er – ihm kam es wie Stunden vor – zugeschaut, wie die Priesterin ihre blutige Mahlzeit verspeiste, zubereitet aus den Herzen vieler unterschiedlicher Tiere, und dem Gesang und Getrommel zugehört. Und jetzt, da die Priesterin endlich in Trance verfallen war, fand er das nicht überzeugender als die Schauspielerei von Kindern. Aber offenbar waren alle anderen in der Halle, ältere und keinesfalls dumme Männer, von diesem langweiligen Schauspiel geradezu gebannt.
Wulfweard saß neben Unwin und hatte sich immer mehr an ihn angelehnt, als der Rauch und das Trommeln stärker wurden. Jetzt sprang er auf, deutete mit der Hand und stieß einen lauten, unzusammenhängenden Schrei aus.
Auch Unwin war so überrascht, dass er ebenfalls aufsprang. Er schaute in die Richtung, in die Wulfweard zeigte, sah jedoch keinen Anlass für einen Schrei – nur die Zuschauer auf der Gegenseite. Alle starrten wie gebannt. »Was ist denn?«, fragte Unwin und packte seinen Bruder an den Schultern. »Wa–?« Kaum hatte er Wulfweard berührt, sah er es auch. In dem Gemisch von grünlichem und blaugrauem Rauch, welches die Luft im Raum erfüllte, stand Hunting. Er war nackt, sein langes Haar hing lose und mit Blut verschmiert über die weiße Brust. Unwin hatte schon viele Männer getötet und viele Leichen gesehen und erkannte daher die extreme Totenblässe, die blauen Schatten auf dem Fleisch und den Todesschweiß auf der Haut. In der Wärme des vollen, verrauchten Raums wurde es Unwin plötzlich eiskalt. Er erschauerte bis ins Mark.
Hunting hob die Hand – eine weiße Hand mit blauen Nägeln – und streckte sie Wulfweard entgegen. Die mit einem dünnen Film verhüllten Augen waren fest auf Wulfweard gerichtet. Unwin spürte, wie seine Hände herabsanken, als Wulfweard sich von ihm wegbewegte. Er sah, wie der Junge wie unter einem Zwang über den Boden der Halle schritt, um der Aufforderung des Geistes Folge zu leisten.
Blitzschnell trat Unwin vor, packte Wulfweard und hielt ihn fest. Der Junge versuchte, ihn abzuschütteln, aber Unwin rang mit ihm und stellte sich zwischen den Bruder und den Geist. Doch Wulfweard wehrte sich heftig, um zu dem Geist zu gelangen, und er war ein sehr kräftiger Junge. »Nein!«, rief Unwin, warf Wulfweard mit einem Hüftschwung zu Boden und hielt ihn dort umklammert.
Verblüfft stand Athelric da und verfolgte den Ringkampf seiner Neffen. Dabei schaute er wiederholt in die Richtung, in die Wulfweard gezeigt hatte, sah aber nichts. Erschrockene Schreie stiegen zu den Dachsparren auf. Männer deuteten und erklärten fassungslos, dass sie im Rauch eine Gestalt sehen könnten. Andere gafften nur.
Unwin hob den Kopf und sah den Geist, der über ihm stand. Er schrie ihn an: »Hier bin ich! Sprich zu mir!«
Doch falls Huntings tote Augen irgendetwas sehen konnten, dann nur Wulfweard. An ihm hing der Blick des Geistes wie gebannt und war so eisig, dass Wulfweard den Kampf aufgab. Unwin vermochte die weiße, blutige Brust des Geistes zu sehen, auch das blaurote Loch, das über seinem Herzen aufgerissen war. Die Lippen bewegten sich, aber Unwin hörte keine Worte, falls der Geist tatsächlich sprach. Vielleicht hörte Wulfweard etwas, denn plötzlich drehte er sich zum Geist und streckte diesem seine warme Hand voller Leben entgegen. Ehe sich die tote und die lebende Hand berührten, packte Unwin Wulfweards Handgelenk und riss den Arm des Jungen zurück, fort vom Griff des Geistes.
Wulfweard brüllte vor Wut und kämpfte erbittert gegen Unwin an – so hart, dass dieser trotz seines größeren Gewichts und seiner Kraft seine gesamte Aufmerksamkeit darauf richten musste, den Bruder festzuhalten. Daher sah er auch nicht, wie der Geist im Rauch verblasste und sich im Gewölk auflöste. Alle, die den Geist gesehen hatten, schwiegen betroffen und schauten zu, wie er verschwand. Diejenigen, die ihn nicht gesehen hatten, waren vom Schweigen ihrer Kameraden so beeindruckt, dass auch sie schwiegen. Stille breitete sich in der Halle aus.
Die Priesterin schwieg ebenfalls. Sie lag schlaff auf dem Boden der Halle, inmitten
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