Susan Price
ihrer Dienerinnen. Wulfweard hörte auf, sich zu wehren. Unwin konnte den Griff lockern und den Kopf heben.
Er schaute in ernste Gesichter mit großen Augen. Doch von der furchteinflößenden Erscheinung im Rauch war keine Spur mehr vorhanden. Er sagte zu Wulfweard: »Steh auf!« und zog am Arm des Jungen. Keinerlei Reaktion. Er packte den Bruder an den Schultern und hob ihn auf. Wulfweard lag schlaff wie ein Mehlsack auf seinen Armen. Der Junge hatte das Bewusstsein verloren. Unwin runzelte die Stirn und legte den Kopf Wulfweards behutsam gegen seine Schulter. Er wischte ihm das Haar aus der Stirn und erschrak, als er die Ähnlichkeit des blassen Gesichts, des schlaffen Mundes und der Schweißperlen des Jungen mit dem toten Gesicht im Rauch erkannte. War dies ein weiterer Bruder, um dessen Loyalität er nicht länger zu fürchten brauchte?
Ein Schatten fiel auf sie, und Unwin schaute auf. Sein Vatersbruder stand neben ihm. Athelric drehte mit seinem dicken Zeigefinger Wulfweards Gesicht ins Licht und winkte jemandem. Eine von Ings Frauen kam herbei. Sie kniete neben Unwin nieder, blickte prüfend in Wulfweards Gesicht und fühlte seine Kehle, wo der Puls schlug.
Sie schaute zu Athelric auf und sagte: »Er ist dem Geist gefolgt, edler Herr.«
Athelric nickte verstehend, aber Unwin rief: »Was?«
Die Frau sprach völlig gelassen, als würde die Anwesenheit von Königen, Athelingen und Geistern sie überhaupt nicht beeindrucken. »Der Geist hat ihn gerufen, edler Herr. Sein Geist ist aus ihm ausgetreten – und folgt dem anderen Geist.«
Unwin blickte auf den Kopf hinab, der jetzt auf seinem Arm lag, und spürte Entsetzen. Hielt er einen lebenden, aber leeren Körper? Das Herz schlug, die Brust hob und senkte sich, aber das wahre Leben hatte ihn verlassen. Er blickte hinauf und sagte: »Bring ihn zurück!«
»Das werden wir, edler Herr. Keine Angst.« Die Frau verschlang kniend die Hände im Schoß, schaute Wulfweard wieder an und erklärte: »Dieser Atheling ist ein Hexer, edler Herr.«
Athelric nickte, offensichtlich erfreut.
»Wir sind Christen!«, erklärte Unwin laut.
Die Frau schaute zu Athelric auf, ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie sagte: »Unsere edle Mutter Frideswide hat dem Geist den Pfad geöffnet – aber er führte zu dem Atheling. Und dieser sah es und folgte ihm.«
Unwin war zu wütend, um zu antworten; er stand auf und zog Wulfweard mit sich hoch. Er legte den Arm unter die Beine des Jungen und hob ihn auf. Er wusste, dass er ihn nicht weit würde tragen müssen, weil andere ihm zu Hilfe kommen würden. Einem Mitglied der Königssippe gebrach es nie an Hilfe. Ehe Unwin die Tür der Halle erreicht hatte, war er schon von Helfern umringt. Wulfweard wurde auf einer Bahre aus Armen zu seiner eigenen Unterkunft getragen und ins Bett gelegt. Unwin folgte; auch Athelric begleitete ihn und zwei der Frauen Ings.
»Den ganzen Tag über müssen bestimmte Lieder gesungen werden, und, wenn es nötig ist, auch die ganze Nacht hindurch, um ihn zurückzuführen«, sagte Athelric. »Es wäre klug von dir, sie singen zu lassen. Das heißt, wenn du Wulfweard zurückhaben willst.«
Unwin blickte ihn zornig an. »Ich will meinen Bruder zurück, Vatersbruder! Ich werde bei ihm wachen.«
Im goldenen Flackerlicht der Kerzen saßen die Frauen Ings die ganze Nacht an Wulfweards Bett und sangen seinen Namen. Sie sangen ein endloses Lied, welches die Pfade zwischen dieser und der nächsten Welt beschrieb. Unwin saß auf einer Bank, lauschte und döste vor sich hin. Gelegentlich stand er auf, beugte sich über das Bett und hielt seine Hand über die Nase des Bruders, oder er prüfte den Puls am Hals. Mehrmals stieß Wulfweard tiefe Seufzer aus, rührte sich aber kaum. Man konnte ihn nicht wecken, selbst wenn man ihn schüttelte oder in die Höhe hob.
»Geduld, edler Herr«, sagte eine der Frauen. »Er wird zurückkehren.«
Unwin würdigte sie keines Wortes, ging nur zurück zu seinem Platz. Der Tag brach an, die Fensterläden wurden geöffnet, doch auch das Sonnenlicht, das voll in Wulfweards Gesicht schien, vermochte ihn nicht zu wecken. Man brachte die Nachricht, dass Frideswide, die Priesterin, aufgewacht war. Später trat sie selbst mit einigen Dienerinnen ein und stützte sich auf ihren Stab.
Dann setzte sich Frideswide auf einen Schemel neben das Bett und begann zu singen. Unwin drehte ihr den Rücken zu, riss die Tür auf und schrie, man solle ihm etwas zu essen bringen. Singen, singen! Er hatte mehr
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