Susan Price
Körper verlassen und in eine andere Welt reisen konnte, davon war er fest überzeugt. Aber dass ein Körper, Fleisch, Knochen und Blut, zusammen mit seinem Geist diese Welt verlassen konnte, war schlichtweg unmöglich. Wieder und wieder kehrte sein Blick zu dem Abdruck auf dem Kissen zurück.
Unwin beugte sich über ihn und sagte: »Nun bist du zwei Söhne deines Bruders los, Vatersbruder.« In Athelrics Kopf formte sich ein klarer Gedanke, welcher besagte: Ich bin den falschen Brudersohn losgeworden.
Wulfweard hatte im Wirbel der Trommel und dem Gesang der Frauen vor sich hingedämmert, war tief in den Schlaf gesunken – und dann noch tiefer. Plötzlich war er hochgeschreckt, weil sein Herz sich vor Schmerzen zusammenzog. Es war, als sei sein Herz in dieser, seiner eigenen Welt verwurzelt und als werde er jetzt daraus fortgerissen. Er rang nach Atem und versuchte, aus dem Schlaf aufzuwachen, aber er schwebte dahin; die Welt drehte sich, und er kam, wie durch Wasser, auf die Beine. Er lag nicht mehr auf dem Boden, sondern befand sich an einem anderen Ort.
Kerzenlicht flackerte. Wie durch Wellen sah er einen kleinen Raum, der vom warmen Licht des Feuers und einer Lampe erhellt wurde. Ihm gegenüber stand ein Webstuhl, welcher sein gesamtes Gesichtsfeld und eine Seite des Raums einnahm. Er spürte jemanden – jemanden am Rande seines Gesichtsfelds –, doch er starrte wie gebannt nur auf den Webstuhl.
Kettfaden und Durchschuss waren weiß, blau, rot und gelb. Weich und glitschig. Alles roch nach Blut, und Blut tropfte herab. Die Fäden waren Gedärme und Sehnen. Die Gewichte, welche den Kettfaden straff hielten, waren abgeschnittene Köpfe mit herabhängenden blauen Lippen und Lidern. Kette und Schuss wurden durch einen großen grauen Speer auseinandergehalten. Das Weberschiffchen war ein Oberschenkelknochen.
Eine Frauenstimme ertönte, die Stimme der Gestalt am Rande seines Gesichtsfeldes. »Ich webe das Gespinst des Krieges.« Der Speer teilte die weichen Fäden, das Schiffchen flog hindurch. Wulfweard sah plötzlich ein feines Tuch aus Wolle, in das ein Muster eingewebt war: Männer mit erhobenen Äxten, in Rot, Gelb und Blau. Die Webgewichte waren runde durchbohrte Steine. Er legte die Hand an seinen benommenen Kopf und war keineswegs sicher, dass er zuvor etwas anderes gesehen hatte.
»Wulfweard, Atheling. Sei willkommen«, sagte die Frauenstimme.
Zum ersten Mal schaute er sie an und war ob ihrer Schönheit sprachlos. Rotes Haar hing über ihre Schultern, darin waren feine graue Fäden, aber auch rotgoldene, mit Silber durchzogen. Ein dicker Reif aus Gold lag um ihren Hals, und auf den Schultern hatte sie zwei ovale goldene Broschen, verbunden durch eine Kette aus Granatperlen und Bernstein. Von dem goldenen Gürtel um ihre schmale Körpermitte hingen Schere, Schlüssel und ein langes Sax, ähnlich dem an seiner Seite. Sie lächelte. »Hast du geglaubt, du könntest dich in meine Welt, in meine Halle, unbemerkt hereinschleichen wie eine Maus in eine Speisekammer?«, sagte sie. Dann verließ sie, immer noch lächelnd, den Webstuhl und ging mit offenen Armen auf ihn zu. Sie hätte ihn umarmt, wäre er nicht aus Angst, von ihrem Weben mit Blut befleckt zu werden, zurückgewichen. Aber sie war wunderschön und sauber, und sie webte nur Wolle. Daher ließ er sich einfangen. Sie presste ihren weichen Körper an ihn und küsste ihn auf die Wange. »So schöne junge Männer, wie du einer bist, sind auf den Bänken meiner Halle immer willkommen«, sagte sie. »Jetzt suche ich dir einen schönen Platz und bringe dir etwas zu essen und zu trinken.« Er zuckte zurück, aber sie lachte nur. »Oh, du gedenkst in meiner Halle nichts zu essen oder zu trinken.« Wieder trat sie ganz dicht an ihn heran und flüsterte ihm ins Ohr, wobei ihr Atem seine Haut kitzelte. »Ich weiß, weshalb du hergekommen bist und wessen Kopf du haben willst. Gut, du sollst deine Chance haben. Lange musst du nicht warten.«
Von draußen vor der Halle ertönten lautes Geschrei und Jubel. Sie hob den Kopf und lauschte. »Nein«, sagte sie. »Wirklich nicht lange.« Dann nahm sie seine Hand und führte ihn zu einer Tür, vor der ein Vorhang hing. »Komm und schau dir einen Wettkampf an. Dann kämpfe selbst, falls du den Mut dazu hast. Hast du Mut?«
»Ich hatte den Mut hierherzukommen.«
»Aber vielleicht hast du ihn aufgebraucht und keinen mehr übrig?«, fragte sie ihn und führte ihn durch die Tür in eine Halle mit vielen Menschen und
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