Susan Price
»Herrin, wir können diesen Ort nicht lange halten. Es ist besser, ihren Befehlen Folge zu leisten, als gegen sie zu kämpfen.« Er erhob erneut seine Stimme. »Die Familie des Athelings Unwin befindet sich in meiner Obhut. Wenn ich das Tor öffne, habe ich Euer Wort, dass ihr nichts geschehen wird?«
Athelric wollte gerade sprechen, als ihn die Stimme des Elfensohns zum Schweigen brachte. Er ließ sein Pferd einige Schritte auf die Brücke gehen und richtete sich in seinen Steigbügeln auf. »Wenn ich mir meinen Weg durch dieses Tor erkämpfen muss, dann schwöre ich bei Thunor, dass ich jeden Einzelnen von euch töten werde! Aber wenn mir das Tor geöffnet wird, dann schwöre ich bei Woden, dass keinem ein Haar gekrümmt wird!«, rief der Elfengeborene.
Seine Worte ließen ein Raunen durch die Menschenmenge gehen, auch durch die Truppen – vielleicht war es sogar der Anfang eines Lachens. Doch wenn dem so war, dann wurde das Lachen schnell unterdrückt, und Stille senkte sich wieder auf alle. Niemand drehte mehr seinen Kopf, niemand hob mehr die Hände. Totenstille herrschte nun.
Kendidra, die als Heidin erzogen worden war, verstand den Grund für das Gelächter und die plötzliche Stille. Thunor war der Gott, in dessen Namen verpflichtende Schwüre geleistet wurden; es wurde erwartet, dass einem solchen Schwur Folge geleistet wurde. Doch ein Versprechen im Namen des verräterischen Gottes Woden war ein zweischneidiges Schwert. Woden, der Gott der Schlachten, versprach seinen Anhängern den Sieg im Kampf, und hielt sein Versprechen – bis er es brach. Oder er hielt sein Versprechen und verband es mit Tod oder Verstümmelungen. Als Kendidra die Worte des Elfengeborenen hörte, kam sie nicht umhin zu denken, dass es für ihre Kinder keinen sicheren Platz gab außer in ihrem Grab. Nichts konnte ihnen Schaden zufügen, wenn sie erst dort lagen.
Sie wandte sich ihrem Hauptmann zu, als dieser sich gerade zu ihr umdrehte. »Herrin, wir müssen das Tor öffnen«, sagte er in dem Augenblick, als sie ihm befehlen wollte, niemals dieses Tor öffnen zu lassen. »Herrin –« Er legte ihr seine Hand auf den Arm. »Wir können sie nicht lange aufhalten. Wenn sie im Blutrausch die Burg stürmen …«
Kein Wort kam über ihre Lippen. Sie nickte, und dann lief sie zur Leiter, die vom Tordach nach unten führte.
Als sie den Innenhof erreichte, wurden die schweren Torflügel gerade nach innen gewuchtet. Während die Reiter die Brücke überquerten und mit schwerem Hufschlag durch das Tor kamen, rannte sie mit gerafftem Rock über den Hof zu ihrem Haus, ohne auch nur auf ihren angeheirateten Verwandten Athelric zu warten. Sie wollte ihre Kinder finden. Wenn diese Männer, die gerade zu Pferd in ihr Heim eindrangen, den Befehl hatten, die Kinder des Athelings zu finden und zu töten, dann wollte sie vor ihnen stehen und, solange sie es konnte, für sie kämpfen.
In Friedenszeiten hätte es zu ihren Pflichten gehört, sich um die Unterbringung der Gäste zu kümmern, um deren Verpflegung, die Stätten, wo die verschiedenen Truppen der Leibgarde nächtigen konnten. Aber nun wurde ihre Hilfe nicht benötigt. Die Truppen ritten herein und begannen mit viel Geschrei und Hufgeklapper die Ställe und Gasthäuser selbst in Besitz zu nehmen, unter Anweisung ihrer eigenen Hauptleute. Sie wusste, dass sie die Nahrungsvorräte überprüfen und ihren Hauptmann seines Postens entheben würden. Sie würden seine Männer unterschiedlichen Truppen zuordnen, um ihre Treue zu schwächen. Dann würden sie die Pferde im Stall zählen, die Schweine in ihren Koben, die Hühner in ihren Ställen. Hätte man sie gefragt, dann hätte sie den gesamten Vorgang gründlicher und schneller erledigen können, aber in diesem Augenblick gedachte sie ihren Kindern nicht von der Seite zu weichen. Auch nicht ihren vier Kammerzofen, die sie in ihren Räumen um sich versammelt hatte. Sie waren alle Mädchen aus gutem Hause, die man zu ihr geschickt hatte, um ihnen das Führen eines Haushalts beizubringen. Sie konnte sie kaum draußen in der Residenz umherirren lassen, wenn sich dort fremde Truppen herumtrieben.
Und so sprachen die Frauen, eingesperrt in Kendidras kleinem Zimmer, zum Wohle der Kinder über Belanglosigkeiten. Sie erzählten sich Geschichten und sangen, während sie wie jeden Tag Garn spannen. Als Schreie von draußen die Kinder an die Fenster laufen ließen, holten sie sie wieder zurück und versuchten, sie abzulenken, mit Witzen, Spielzeug,
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