Susannah 4 - Auch Geister lieben süße Rache
verkniff, denn auf einmal berührte Jesse mit den Fingerspitzen meine Wange - genau wie damals im Krankenhaus.
»Susannah«, sagte er. »Auch wenn meine Leiche gefunden wird, ändert das nichts.«
»Ähm«, wandte ich ein. »Entschuldige bitte, aber ich weiß, wovon ich rede. Ich bin seit sechzehn Jahren Mittlerin.«
»Und ich bin seit hundertfünfzig Jahren tot«, sagte er. »Meinst du nicht, dass auch ich weiß, wovon ich rede? Und ich kann dir versichern, das Geheimnis um meinen Tod … ist nicht der Grund dafür, dass ich hier immer noch … herumhänge, wie du das nennst.«
Da passierte etwas Merkwürdiges. Ich fing schon wieder an zu weinen, genau wie in Clive Clemmings’ Büro nur wenige Stunden zuvor. Einfach so.
Nein, ich flennte nicht wie ein Baby, aber meine Augen füllten sich mit Tränen, in meiner Nase prickelte es, und meine Kehle brannte. Das war wirklich komisch, denn eben noch hatte ich versucht, so zu tun, als würde ich weinen, und jetzt war es auf einmal ganz echt.
»Jesse«, sagte ich mit dieser schrecklich verheulten Stimme (so zu tun, als würde man weinen, war viel besser als echtes Weinen - viel weniger Schleim im Spiel).
»Tut mir leid, aber was du sagst, stimmt einfach nicht. Ich weiß es besser. Ich hab das doch schon hundertmal erlebt. Wenn deine Leiche gefunden wird, bist du weg. Das war’s dann.«
»Susannah«, sagte Jesse. Diesmal berührte er nicht mehr nur meine Wange, sondern umfasste mein Gesicht mit einer Hand …
Allerdings wurde der romantische Effekt dadurch vermindert, dass er dabei unterdrückt lachte. Obwohl er genauso angestrengt versuchte, sich das Lachen zu verkneifen, wie ich versuchte, nicht loszuheulen.
»Susannah, ich verspreche dir …« Er machte lange Pausen zwischen den Wörtern, um ihnen mehr Gewicht zu verleihen. »… dass ich nirgendwohin gehen werde, egal ob dein Stiefvater meine Leiche im Garten findet oder nicht. In Ordnung?«
Ich glaubte ihm natürlich kein Wort. Ich wünschte mir, es wäre die Wahrheit, aber der Kerl hatte einfach keine Ahnung, wovon er da redete.
Nur … was hätte ich tun sollen? Ich hatte keine andere Wahl, als den Tatsachen ins Auge zu sehen. Einfach rumzusitzen und mir die Augen auszuheulen, war ziemlich blöd.
Und so sagte ich - leider sehr rotzelnd, denn genau wie der Tränenfluss war der Schleim jetzt nicht mehr aufzuhalten: »Wirklich? Du versprichst es mir?«
Grinsend ließ Jesse mich los. Dann holte er aus seiner Tasche ein kleines, spitzengesäumtes Stück Stoff, das ich sofort erkannte: Maria de Silvas Taschentuch. Er hatte es schon ein paarmal dazu benutzt, mir die Kratzer
und Wunden zu verbinden, die ich mir bei meinem Mittlerjob zugezogen hatte. Diesmal wischte er mir damit die Tränen ab.
»Ich schwöre es«, sagte er. Er lachte dabei, aber nur ein kleines bisschen.
Am Ende überredete mich Jesse, wieder in mein eigenes Bett umzuziehen. Er versprach, dafür zu sorgen, dass seine Exfreundin mich nicht mehr nachts aufsuchte. Nur dass er das Wort »Exfreundin« nicht benutzte, sondern sie Maria nannte. Ich hätte ihn immer noch gern gefragt, was er sich dabei gedacht hatte, sich mit so einer hinterfotzigen Schlange zusammenzutun, aber irgendwie ergab sich nie der passende Moment dafür.
Oder gibt es überhaupt den passenden Moment dafür, jemanden zu fragen, warum er eine Frau heiraten wollte, die ihn umbringen ließ?
Wahrscheinlich nicht.
Keine Ahnung, wie Jesse Maria aufhalten wollte, wenn sie mich wieder heimsuchen würde. Er war natürlich schon viel länger tot als sie und hatte dadurch wohl jede Menge Erfahrung in Geisterdingen. Höchstwahrscheinlich war Marias Ausflug in mein Zimmer ihr erster und einziger Ausflug aus der Welt gewesen, in der sie sich seit ihrem Tod aufhielt. Je länger jemand als Geist unterwegs ist, über desto größere Kräfte verfügt er.
Außer er ist zufällig - wie bei Maria wahrscheinlich der Fall - bis Oberkante Unterlippe voller Zorn.
Aber Jesse und ich hatten schon gegen Geister gekämpft, die mindestens genauso wütend gewesen waren
wie Maria - und wir hatten gewonnen. Also wusste ich, dass wir auch diesmal gewinnen würden, solange wir zusammenhielten.
Es war wirklich komisch, ins Bett zu gehen und zu wissen, dass jemand da saß und über einen wachte. Aber ich gewöhnte mich schnell an das Gefühl, und irgendwie war es schön, dass Jesse neben Spike auf der Tagesdecke saß und im Schein seiner eigenen Spektralaura ein Buch namens »Eintausend Jahre« las, das er
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