Susannah 6 - Auch Geister sind romantisch
Was ist denn?«
David sah sich mit großen Augen in der Küche um. »Bist du … bist du nicht allein?«
Er war neben meinem Dad das einzige Mitglied meiner Familie, das die Wahrheit über mich wusste. Zumindest einen großen Teil der Wahrheit. Wenn ich ihm alles erzählt hätte … Obwohl, mit seiner strukturierten, wissenschaftlichen Denkweise hätte er wahrscheinlich kein Problem damit gehabt.
Was nicht hieß, dass es ihm auch gefallen würde.
»Doch, jetzt ja«, antwortete ich, wohl wissend, was er eigentlich meinte.
»Ich wollte nur den Nachtisch holen«, sagte David. »Dad hat Obstkuchen gemacht.«
»Okay, ich bin hier sowieso fertig. Ich gehe dann mal nach oben.«
Davids Stimme, die in den letzten paar Monaten von hoch und fistelig immer mehr zu tief und voll gewechselt hatte, hielt mich zurück. »Suze – ist wirklich alles in Ordnung? Du wirkst so … traurig.«
»Traurig?« Ich blickte ihn über die Schulter hinweg an. »Ich bin nicht traurig. Nicht … allzu sehr. Ich … muss nur etwas hinter mich bringen.« Trotz Dads Einwänden hatte ich beschlossen, die Sache mit Jesse nicht auf sich beruhen zu lassen. Ich würde ihn nicht einfach kampflos aufgeben. »Und das liegt mir ziemlich im Magen.«
»Ach so«, sagte David. Dann begann er zu strahlen. »Dann mach es kurz und schmerzlos. Weißt du, so wie man ein Pflaster abreißt.«
Kurz und schmerzlos. Ein frommer Wunsch. Dabei wusste ich noch nicht mal, wann Paul genau seinen Trip durch die Zeit durchführen wollte. Im schlimmsten Falle konnte ich schon morgen ohne Erinnerung an Jesse aufwachen.
»Danke«, sagte ich und lächelte. »Ich werd dran denken.«
Eine halbe Stunde später, als ich endlich Pater Dom ans Telefon bekommen hatte, lächelte ich nicht mehr.
Pater Dom konnte sich nicht ganz so sehr in meine Lage hineinversetzen wie erhofft. Ehrlich gesagt hatte ich als Reaktion auf meine Erzählung über Paul, wie er Diegos Gürtelschnalle gekauft und dann seinen eigenen Großvater vergiftet hatte, etwas mehr Empörung erwartet.
Stattdessen verhielt sich Pater Dominic ähnlich wie mein Vater. Jesse sei zu jung, zu grausam ums Leben gekommen. Er habe eine zweite Chance verdient. Es sei moralisch verwerflich, wie ich mit Händen und Füßen dagegen ankämpfte.
Vielleicht lag das an den guten Nachrichten, die Pater Dom erhalten hatte: Der Monsignore war aus dem Koma erwacht und offensichtlich auf dem Weg der Besserung.
»Das freut mich zu hören«, sagte ich nur. »Aber noch mal zurück zu Paul …«
»Ich würde mir nicht allzu große Sorgen machen, Susannah«, fiel er mir ins Wort. »Ich gebe zu, die Sache mit seinem Großvater ist schlimm – wenn er es denn tatsächlich getan hat …«
»Aber er sagt doch selber, dass er es war. Also, nicht wortwörtlich, aber …«
»Nun ja, in Ihrer Art, die Wahrheit ein bisschen … na sagen wir zu überhöhen, stehen Sie beide sich nun auch wirklich in nichts nach …«
»Pater Dom!« Meine Finger umklammerten den Hörer. »Ich habe selbst den Krankenwagen gerufen.«
»Ja ja, das sagten Sie schon. Aber dennoch, Susannah – wenn ich Sie richtig verstehe, muss Paul, um diese Zeitreise anzutreten, an genau jenem Ort stehen, an dem die Person einmal stand, in deren genaue Zeit er zurückreisen will, stimmt’s?«
»Ja, genau. Und?« So kurzangebunden war ich bei Gesprächen mit ihm normalerweise nicht, aber ich machte für diesen Fall mildernde Umstände geltend.
»Würde das dann nicht bedeuten, dass Paul von Ihrem Zimmer aus aufbrechen müsste?« Er klang, als wäre er nicht ganz bei der Sache. Vielleicht lenkte ihn der Gedanke an die Rückreise nach Carmel ab. »Ihr Zimmer, das ist doch der Ort, an dem Diego Jesse ermordet hat, nicht? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Paul so ohne Weiteres Zugang zu Ihrem Schlafzimmer hat, Susannah. Nicht ohne Ihre Zustimmung.«
Mir fiel fast der Hörer aus der Hand. Dass ich daran noch nicht gedacht hatte …
Pater Dominic hatte recht. Paul konnte gar nicht in Jesses Zeit zurückreisen, solange er nicht bei mir einbrach. Denn ein Einbruch wäre die einzige Möglichkeit für ihn, jemals in mein Zimmer zu kommen. Die einzige Möglichkeit.
»Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht«, sagte ich erleichtert. »Sie haben recht. Hundertprozentig! Pater Dominic, Sie sind ein Genie!«
Der Pater räusperte sich verlegen. »Danke, Susannah. Mag sein. Ich muss trotzdem sagen: Es wäre richtig, Paul in Ihr Zimmer zu lassen, damit Jesse sein Leben so leben kann,
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