Susanne Barden - 03 in New York
wollten. Sie arbeiten ausgezeichnet. Besonders der Fall Krasnicki hat uns gezeigt, daß wir uns auf Sie verlassen können.« Sie machte eine kleine Pause.
Susy schwankte zwischen Freude und Kummer. Henry Street verließ sich auf sie. Aber das tat Bill auch.
»Leider wird unser Kreis Sie als Mitarbeiterin verlieren«, fuhr Fräulein Russell fort. »Sie werden nach Washington Heights versetzt.«
Susy glaubte nicht recht gehört zu haben. Es konnte doch nicht sein, daß sie von hier fortgehen sollte, aus diesem Haus, in dem sie mit Lillian Wald gesprochen hatte! Sie sollte die lärmenden bunten Straßen mit ihren Obstwagen und Trödelläden verlassen, die ihr lieb gewordenen Patienten, die netten Straßenkehrer und Polizisten? Und sie sollte Fräulein Russell gegen eine fremde Vorgesetzte eintauschen?
»Das heißt also«, stotterte sie kläglich, »daß mein eigener Bezirk
- dann in Washington Heights sein wird?«
Fräulein Russell nickte bedauernd. »Es tut mir selber sehr leid, Fräulein Barden. Ich hatte gehofft, daß Sie dauernd bei uns bleiben könnten. Aber eine Schwester in Washington Heights muß aus Gesundheitsgründen abgehen. Es fehlt dort also eine Kraft. Wir versetzen nicht gern Schwestern, die schon ihren eigenen Bezirk haben. Daher müssen wir Sie nach Washington Heights schicken. Sie werden Ihren Bezirk dann bald zugeteilt bekommen und dauernd dort arbeiten.«
Susy hatte den Eindruck, daß jedes zweite Wort von Fräulein Russell »dauernd« gewesen war.
»Wann soll ich gehen?« fragte sie tonlos.
Harlem
Das Büro von Washington Heights bestand aus großen hellen Räumen. Die Schwestern begrüßten Susy sogleich als ständige Stabsschwester des Kreises, obwohl sie das offiziell noch gar nicht war. Wäre Susy versetzt worden, bevor sie den beunruhigenden Brief von Bill bekommen hatte, dann hätte sie nicht weiter darauf geachtet. Jetzt erinnerte das Verhalten der Schwestern sie sogleich wieder an die Zwangslage, in der sie sich befand.
Fräulein Farrar, die Leiterin des Kreises, war eine kleine zierliche Person mit dunklem Haar, dunklen lustigen Augen und schönen Händen. Sie stand sich sehr gut mit ihren Schwestern, und in ihrem Büro wurde viel gescherzt und gelacht. »Die Mädchen müssen so viel Unerfreuliches sehen«, sagte sie zu Susy. »Es tut ihnen gut, wenn sie sich hier wie Kinder benehmen dürfen.«
Susy stimmte ihr von ganzem Herzen zu. »Ich werde mich hier wohl fühlen«, dachte sie voller Freude, die aber sogleich durch ein Gefühl der Schuld gedämpft wurde. Nachdem Fräulein Farrar ihr die Räume gezeigt und ein Schreibpult zugewiesen hatte, setzte sie ihr die Probleme des ganzen Kreises und vor allem des Bezirks auseinander, den Susy in Zukunft betreuen sollte. Susys Schützlinge würden Iren, Schotten und Kubaner sein, in der Mehrzahl aber Farbige, die im westlichen Harlem wohnten. Hier würde Susy nicht nur in Armenvierteln, sondern auch in dem reichen Sugar-Hill-Viertel arbeiten, in dem die berühmten schwarzen Sänger, Tänzer und Musiker lebten.
Die arme Bevölkerung mußte vor allem darüber belehrt werden, wie man sich richtig ernährt. Viele Kinder hatten Rachitis. Diesem Übel konnte man begegnen, aber gegen die Überfüllung der Mietshäuser war schlecht etwas zu machen. Oft wohnten fünf oder sechs Parteien in einem Einfamilienhaus. Da die meisten Erwachsenen tagsüber arbeiteten, blieben die Kinder sich selbst überlassen und trieben sich auf der Straße herum.
»Verlieren Sie nicht gleich den Mut, wenn Sie mal etwas verkehrt machen«, sagte Fräulein Farrar. »Es dauert lange, bis eine Schwester ihren Bezirk so gut kennt, daß sie stets das Richtige trifft. Aber ich bin ja da, um Ihnen zu helfen. Wir alle werden Ihnen helfen.«
Gewiß werden sie das, dachte Susy glücklich. Und natürlich dauert es lange, bis man sich eingearbeitet hat. Das muß doch jeder Mensch einsehen - besonders aber ein Arzt! »Ihren Nachbarbezirk verwaltet Frau Egan«, fuhr Fräulein Farrar fort. »Sie werden sich gegenseitig vertreten, wenn Sie Ihren freien Nachmittag haben oder wenn es einmal besonders heiß hergeht. Frau Egan kann Sie am besten einführen und Ihnen alles Notwendige erklären. Sie sollen sie daher heute auf ihrer Runde begleiten.«
Susy hatte sich die Namen der Schwestern bei der Vorstellung nicht gemerkt und wußte daher nicht, wer Frau Egan war. Als Fräulein Farrar ihre hilflose Miene sah, lachte sie. »Frau Egans Schreibtisch steht neben dem Ihren. Sie sitzt dort
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