Susanne Barden 04 - Weite Wege
Krise befand. Anne fand Marianna zwar »ganz schrecklich kurios«, glaubte aber, das sei ihre Natur, und sagte daher nichts. Erst Kit zerstörte die trügerische Ruhe; sie erkannte sofort, in welcher Gefahr Marianna schwebte, und brachte die Sache zur Sprache.
Bis zu Kits Ankunft verlebten Susy und Bill eine glückliche Zeit gemeinsamer Arbeit ohne äußere Störungen, so wie sie es sich immer gewünscht hatten. Die Bewohner von Springdale und der umliegenden Dörfer und Farmen schwärmten bald ebenso begeistert für Bill, wie sie ihn früher angefeindet hatten. Infolgedessen bekam auch Susy immer neue Patienten. Abends besprachen sie und Bill die einzelnen Fälle miteinander, tauschten ihre Meinungen aus, diskutierten über Krankheitsanzeichen und Behandlungsmethoden. Susy hatte inzwischen einen Mütterklub gegründet und überredete werdende Mütter, die sich bei Bill untersuchen ließen, ihm beizutreten. Manchmal wurden sie nachts geweckt und fuhren zu einer einsam gelegenen Farm, um ein neues entrüstetes Menschenwesen zur Welt bringen zu helfen - ein schreiendes rotes Etwas, das Susy beim Licht einer Petroleumlampe wusch, während Bill dem jungen Vater Mut zusprach.
War die Arbeit getan, dann fuhren sie durch den grauenden Morgen nach Springdale zurück, manchmal plaudernd, manchmal auch in einmütigem Schweigen. Müde aber glücklich beobachteten sie so manchen Sonnenaufgang über dem Gebirge, während der Wagen sich mühsam durch schmelzenden Schnee arbeitete, in ausgefahrenen Wagenspuren schleuderte oder durch angeschwollene Bäche platschte. Maxi von Neurenheim schlummerte während dieser Fahrten auf dem Rücksitz unter einer Decke. Susy nahm ihn stets mit, wohin sie auch fuhr, und ließ ihn während ihrer Besuche im Wagen. Er war ein drolliger kleiner Kerl - eine sonderbare Mischung von Frohsinn und Pessimismus, überaus zärtlich im Verkehr mit Freunden, beleidigend mißtrauisch allen Fremden gegenüber. »Ich weiß wirklich nicht, wie er zu diesem Mißtrauen kommt«, sagte Susy zu Bill. »Nur gut, daß er nicht sagen kann, was er von den Menschen denkt.«
Bill lachte. »Ein schöner Gefährte für meine zukünftige Frau! Wenn mein Terrier nicht an Altersschwäche eingegangen wäre, hätte er deinem Prinzlein Manieren beibringen können.«
»Ich will ihn gar nicht anders haben!« rief Susy entrüstet, und Bill lachte herzlich.
Die glücklichen arbeitsreichen Tage vergingen wie im Fluge, und bald war es April geworden. Oben auf den Bergen lag immer noch Schnee; dort konnte man bis in den Juni hinein Ski laufen. Aber Täler und Wiesenhänge waren schneefrei, und die Bäche polterten zwischen großen Felsbrocken dahin. Susy vertauschte ihren Waschbärmantel, der ihr so lange treue Dienste geleistet hatte, gegen den leichteren graugrünen Tweedmantel, den sie schon in New York bei der Arbeit getragen hatte.
In Springdale war Susys Tätigkeit ganz anderer Art als in New York. An sich unterschieden sich die einzelnen Fälle kaum voneinander, denn Grippe und Masern blieben dieselben Krankheiten, ob sie nun in New Yorks übervölkerten Armenvierteln oder auf einer einsam gelegenen Bergfarm auftraten. Aber jetzt war Susy völlig auf sich allein angewiesen. Auch hatte sie mit dem Eigensinn der Bewohner zu kämpfen, die sich sträubten, ins Krankenhaus zu gehen, wenn sie krank waren, und von vornherein gegen Organisationen jeder Art das größte Mißtrauen hegten.
Die Krankenschwestern, die in großen Städten oder in Industriegebieten arbeiteten, wo sie es in der Hauptsache mit Eingewanderten zu tun hatten, kannten diese Schwierigkeiten nicht. Aber die Bewohner von Springdale und den umliegenden Ortschaften waren in diesem Land geboren und mit ihm verwurzelt. Beseelt von einem ausgeprägten Lokalpatriotismus und eng begrenzt in ihren Interessen, verteidigten sie fanatisch ihre Unabhängigkeit. Sie wollten keine Erholungsreisen machen; sie wollten nicht in Sanatorien gehen oder in die Stadt fahren, um Spezialärzte aufzusuchen. Sie wollten sich nicht in Kliniken behandeln lassen, weil die Kliniken weit entfernt lagen. Notfalls legten sie sich in das kleine Krankenhaus in Winslow, aber nur, wenn sie sehr, sehr krank waren. Mit einem Wort, sie waren fanatische Individualisten. Aber Susy hatte genug zu tun. Ihre Stellung war klar umrissen. Sie war die Gemeindeschwester von Springdale; sie tat, was getan werden mußte. Sie hatte niemand über sich, der sie überwachte - außer Bill und ihrem eigenen Gewissen. Ihre
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