Susanne Barden 04 - Weite Wege
sanft.
Die Mädchen rückten unbehaglich hin und her. Kit saß mit gekreuzten Beinen in einer tiefen Einbuchtung des Federbetts und bemühte sich, ein vergnügtes Gesicht zu machen. Susy hatte sich gegen die Kissen gelehnt. In ihrem Gesicht drückten sich Sorge,
Mitleid und Zerknirschung aus. Nach kurzem Nachdenken richtete sie sich energisch auf und fragte ohne Umschweife: »Fehlt dir etwas, Marianna? Ist in der Schule alles in Ordnung?«
Marianna zog die Schultern hoch. »Ich denke ja.«
»Was ist es dann, Marianna? Ich sehe doch, daß dich etwas bedrückt. Willst du es uns nicht sagen?«
Marianna hielt den Kopf über den kleinen Dackel in ihrem Schoß gebeugt. Als sie ihn hob, sah sie Susy mit entschlossener Offenheit an. »Ja, vielleicht ist es besser, wenn ich es gleich sage. Ich - will nicht in Springdale bleiben. Ich wollte es dir eigentlich erst später sagen.«
»Was ist denn passiert, Marianna?«
»Nichts ist passiert. Bloß - mir gefällt’s hier nicht. Ich will nach New York zurück. Ich passe nicht aufs Land.«
Es entstand ein Schweigen. Dann sagte Kit sanft: »Warum gefällt es dir hier nicht, Marianna? Ich meine - gibt es einen bestimmten Grund dafür? Hat dich jemand gekränkt?«
»Ne. Das wär mir auch egal. Es ist - ich hasse das Land!« Ihre Stimme war lauter geworden, und sie gab sich sichtlich Mühe, nicht die Fassung zu verlieren. »Ihr seid gut zu mir gewesen - alle beide. Aber ich kann unmöglich in diesem Kaff bleiben.« Ihre Lippen zitterten, und sie schluckte erregt. Maxi sah sie ängstlich an. Sie setzte ihn auf den Boden und stand auf.
»Ist das dein Ernst?« fragte Susy. »Willst du wirklich nach New York zurück?«
»Glaubst du, ich sag das zum Spaß?« Marianna stellte sich erregt vor Susy hin. »Ich hasse die hohen Berge - und die Stille - und die albernen Gören in der Schule, die von nichts ‘ne Ahnung haben. Ich hasse den Schnee, die Geräusche in der Nacht und alle diese dummen Leute hier ...«
»Na hör mal!« unterbrach Kit sie. »Die Leute hier sind durchaus nicht dumm. Wenn du nicht immer nur an dich denken würdest .«
Ein warnender Blick Susys ließ sie schweigen. »Aber Marianna! Du wolltest doch in die Schwesternschule in Winslow gehen!«
»Ich will nicht mehr Krankenschwester werden!« schrie Marianna.
Die Mädchen starrten sie verdutzt an. »Ja, was willst du denn?« fragte Susy.
»Ich geh zurück nach New York, sobald die Schule aus ist. Ich werd das Jahr noch zu Ende machen. Aber dann hau ich ab! Ich hab genug von Krankenpflege gesehn. Die Arbeit lohnt sich nicht. Ich bin früher gut genug in New York zurechtgekommen und werd auch wieder zurechtkommen.«
Susy ließ sich nichts von ihrer Erregung anmerken. »Du kannst natürlich machen, was du willst. Aber möchtest du es dir nicht noch einmal überlegen?«
»Ich hab es mir überlegt!«
»Aber ich hab es noch nicht überlegt. Das kommt alles so plötzlich für mich. Ich schlage vor, wir besprechen die Sache erst mal miteinander. Sei lieb und setz dich hin, ja?« Susy sah Marianna bittend an. »Ich bekomme ja Angst vor dir, wenn du mich so anfauchst. Und Maxi wird gleich aus dem Zimmer laufen und sich erschießen.«
Marianna lächelte schwach und hob Maxi aufs Bett. Ihr Gesicht war etwas entspannter, als sie sich wieder auf ihren Stuhl setzte.
Während des nun folgenden Schweigens - es war kein unbehagliches, sondern ein nachdenkliches Schweigen - starrte Marianna auf die Spitze ihrer Pantoffeln. Kit lehnte sich gegen einen Bettpfosten, und Susy streichelte Maxis weiches Fell. Der kleine Dackel spürte, daß etwas in der Luft lag, und drängte sich eng an seine Herrin, während seine blanken Augen fragend von einem Gesicht zum andern wanderten.
Susy dachte angestrengt nach. Sie hätte Marianna niemals nach Springdale holen dürfen. Doch sie hatte es getan; daran war nichts mehr zu ändern. Was nun? Wenn Marianna ihren Plan, Krankenschwester zu werden, endgültig aufgab und nach New York zurückkehrte, würde sie wieder ihr altes Leben aufnehmen, so wie sie in ihre alte Sprechweise zurückgefallen war. Sie würde nichts mehr lernen - höchstens unrechte Dinge - und nach etwa einem Jahr eine geübte Ladendiebin sein. Sie hatte schon früher eine Neigung dazu gezeigt. Und wenn sie nicht gleich Arbeit fand - und das würde wahrscheinlich der Fall sein - , würde sie sich eben auf andere Weise besorgen, was sie brauchte. Zuerst würden es Kleinigkeiten sein - Kleidungsstücke, ein Paar Schuhe, ein
Weitere Kostenlose Bücher