Susanne Barden 06 - Heiter bis bewölkt
- bei den Bon- neys ist ja wieder ein Baby angekommen. Das ist eine glückliche Familie.«
Nachdem sie sich eine Weile über Neuigkeiten aus Springdale unterhalten hatten, bemerkte Susy, daß Fräulein Haller immer mehr auf Jerrys Klavierspiel achtete. Gewiß ging ihr der Lärm allmählich auf die Nerven. »Jetzt müssen wir aber wirklich gehen«, sagte sie.
Fräulein Haller schien sie nicht gehört zu haben.
»Wir müssen jetzt gehen«, wiederholte Susy etwas lauter. »Es war sehr nett bei Ihnen, und ich hoffe —«
»Schsch!« Fräulein Haller lauschte mit wachsendem Erstaunen Jerrys Geklimper und fuhr ihren Stuhl schließlich zum Klavier. Susy folgte ihr verdutzt.
Jerry schlug mit einem Finger einzelne Tasten an, zuerst das mittlere C, dann die dritte und dann die fünfte Taste und darauf alle fünf Töne hintereinander von oben herunter, bis er wieder auf dem C landete. Er spielte rhythmisch, und in Susy regte sich eine unklare Erinnerung. Nannte man das nicht Akkord oder so ähnlich? Sie hörte die Stimme ihrer alten Klavierlehrerin mit hoffnungsloser Geduld sagen: »Spiel den Akkord wie eine kleine Melodie, Susy. Hopp, hopp, hopp! Pferdchen, lauf Galopp!« Aber davon konnte Jerry ja nichts wissen.
»Warte, Jerry!« Fräulein Haller spielte mit ihren geschwollenen Fingern dieselbe Tonfolge, ohne jedoch am Schluß das C anzuschlagen. »Warum hast du nicht hier aufgehört?«
»Weil das nicht richtig ist.«
»Warum ist es nicht richtig?«
»Es muß doch zurückgehen, wo es hergekommen ist«, antwortete Jerry ungeduldig.
»Stimmt!« Fräulein Haller sah ihn aufmerksam an. »Sieh einmal, diese schwarzen und weißen Dinger sind Tasten. Aber wir nennen sie Töne. Jedes Lied hat nun einen Grundton, auf dem es am glücklichsten ist. Er ist wie das Nest für kleine Vögel. Sie fliegen davon aus, kommen aber zum Schluß immer wieder zurück. Welches Lied kennst du?«
»Kommt ein Vogel geflogen.«
Fräulein Haller spielte das Lied mit einem Finger.
»Lassen Sie mich! Lassen Sie mich!« rief Jerry. Er spielte die Melodie, ohne zu stocken.
Fräulein Hallers Augen leuchteten auf. Sie schlug das D neben dem mittleren C an. »Nun versuch es von hier aus.« Er begann, stockte und keuchte - ein Zeichen dafür, daß er ärgerlich wurde.
»Manchmal mußt du auch schwarze Tasten nehmen«, sagte Fräulein Haller.
Er suchte umher und spielte die Melodie schließlich fehlerfrei.
»Nun fang woanders an.«
Susy hörte belustigt zu, wie Jerry dasselbe Lied von einem Ende der Klaviatur bis zum anderen spielte. Oft tastete er unsicher umher, aber immer erklang die Melodie rein und unverkennbar.
»Er hat den Grundton jeder Tonart gefunden«, sagte Fräulein Haller.
Susy nickte zufrieden. Sie verstand zu wenig von Musik, als daß sie der Feststellung größere Bedeutung beigelegt hätte. Fräulein Haller hielt Jerry offenbar für recht gelehrig. Nun ließ sie ihn »Hänschen klein« spielen. Zu Susys Überraschung wurde Jerry nicht ungeduldig, sondern spielte völlig hingegeben.
»Jerry!« sagte sie schließlich. »Es ist sehr lieb von Fräulein Haller, daß sie sich mit dir abgibt, aber wir müssen jetzt wirklich .«
»Einen Augenblick, Susy!« fiel Fräulein Haller ihr ins Wort. »Was hast du noch auf dem Klavier entdeckt, als wir draußen waren, Jerry?«
»Manche Töne lieben sich - zum Beispiel diese.« Jerry schlug mit seinen beiden Zeigefingern auf E und C. »Und dann« - seine Stimme klang ganz aufgeregt - »hab’ ich noch was Schöneres gefunden, das Schönste von allem! Mammi sagte, ich könnte es nicht, aber ich kann es doch!« Er schlug abwechselnd F und G an, so schnell er konnte. »Der Regen!« rief er triumphierend. »Ich kann Regen machen!«
Fräulein Haller spielte den Triller leise, obwohl sie vor Schmerz das Gesicht verzog. »Ja, ja!« schrie Jerry. »Hörst du es, Mammi?«
Susy lachte. »Jetzt weiß ich endlich, was du damals gemeint hast. Ich dachte, du wolltest den Regen vom Himmel fallen lassen.«
»Nein, nein, es waren die Töne!« Während Jerry versunken weiterspielte, erzählte Susy der alten Dame vom Regen, den Kirchenglocken und der silbernen Gabel. »Er suchte also etwas, womit er das Geräusch des Regens nachahmen konnte. Aber warum trommelte er nicht einfach mit den Fingern auf dem Tisch?«
»Weil er den Regen als Musik und nicht nur als Rhythmus hörte.«
»Ach so! Jedenfalls geriet er in eine fürchterliche Laune.«
»Das kann ich mir vorstellen. Leidet er oft unter
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