Suter, Martin
und
konzentrierte sich auf die einheimische Stammkundschaft: Beamte, Polizisten,
Ladenbesitzer. Carlos zauberte den schönsten Glanz auf die Schuhe und pflegte
den elegantesten, virtuosesten Umgang mit Bürste und Poliertuch. Bei ihm
blickten die Kunden manchmal von der Zeitung auf oder unterbrachen ein Gespräch,
um der Vorstellung des kleinen Stilisten unter den örtlichen Schuhputzern
zuzusehen.
Diese Fertigkeit hatte Carlos beibehalten und pflegte sie
bis heute. Wenn er Allmens umfangreiche Schuhsammlung putzte, bestand er mit
der ihm eigenen höflichen Impertinenz darauf, es am Fuß zu tun. Nach
anfänglichem Weigern hatte sich Allmen damit abgefunden, sich in seiner Glasbibliothek
- bei geschlossenen Vorhängen, versteht sich -, einen Fuß auf Carlos' schwarze
Schuhputzkiste gestellt und auf dem hochgedrehten Klavierstuhl sitzend, von
ihm die Schuhe putzen zu lassen.
Routiniert wechselte er den Fuß auf Carlos' Zeichen, ein
rasches Antippen der Spitze der Schuhsohle, und widerwillig zog er ein neues
Paar an, während Carlos die Schuhspanner in das frisch polierte einfügte.
Dieses Ritual war fast die einzige Gelegenheit, um sich
über Dinge zu unterhalten, die über die üblichen Haushaltsfragen hinausgingen.
»Carlos, darf man etwas Unehrliches tun, wenn man in Not
ist?«
»Como no, Don John.«
»Como no« war Carlos' Art, ja zu
sagen. Es bedeutete mehr als ja. Es bedeutete: sicher, selbstverständlich,
unbedingt. Die Antwort kam rasch, wie die meisten von Carlos' Antworten. Es
war, als besäße er einen großen Vorrat an fixfertigen, abrufbaren Antworten
auf alle Fragen des Lebens.
»Wenn man mit etwas Ehrlichem nicht aus der Not
herauskommt.«
Diese Einschränkung gefiel Allmen nicht. Und die folgende
noch weniger:
»Aber nur etwas Unehrliches. Nichts Kriminelles.«
Allmen sah ihm eine Weile zu, wie er das straff gespannte
Poliertuch über die Kappe seiner schwarzen englischen Maßschuhe sausen und es
bei jedem dritten Mal knallen ließ. Wie das Geräusch entstand, das hatte Allmen
in all den Jahren nicht herausgefunden. »Was würden Sie tun, wenn ich ins
Gefängnis käme?«
Carlos sah nicht von seiner Arbeit auf. »Das wäre schlimm,
Don John.« Doch nach einer Pause fügte er hinzu: »Aber ich hätte dann weniger
Arbeit.«
Allmen wandte sich wieder seinem Balzac zu.
Der Studienkollege, der ihm das letzte Mal den Smart
geliehen hatte, gab ihm jetzt einen bmw . Er roch
nach neuem Leder und war voller Elektronik, die Allmen nicht verstand. Im
Armaturenbrett leuchtete eine Karte, die laufend seinen Weg und seinen Standort
anzeigte. Allmen war die Vorstellung unangenehm, dass er ständig von einem
Satelliten verfolgt wurde. Womöglich konnte man später genau rekonstruieren,
wohin er in dieser Nacht gefahren war.
Es war kurz nach drei Uhr. Allmen hatte diese Zeit
gewählt, weil sie seiner Meinung nach die Stunde nach den Nachtschwärmern und
vor den Frühaufstehern war. Und tatsächlich: Es herrschte kaum Verkehr. Vor
allem nicht auf dieser Vorortsstraße, die am See entlangführte.
Er konzentrierte sich auf das Autofahren. Schon zwei Mal
hatte er sich dabei ertappt, wie er mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs
war. Der Wagen war so leise und hochgezüchtet, dass Allmen kein Gefühl für sein
Tempo hatte.
Die Konzentration aufs Fahren hatte einen Vorteil: Er
konnte seinen Entschluss nicht in Frage stellen. Es war, als hätte ein anderer
ihn gefasst und er, Allmen, wäre nur dessen ausführendes Organ.
Noch immer herrschte Föhn. Der Mond war voll geworden und
machte die Nacht hell und durchsichtig. Ein paar dicke Wolken wären ihm lieber
gewesen.
Ganz selten kam ihm ein Auto entgegen, nur zwei, drei Mal
überholte ihn eines. Einmal bremste er wegen einer Katze, und einmal kam er an
einem Fußgänger vorbei, dessen Sicherheitsstreifen an der Windjacke schon von
weitem Allmens Scheinwerferlicht reflektierten. Die Villen standen still und
dunkel am Seeufer.
Als er sich der Nummer 328b näherte, reduzierte er die Geschwindigkeit noch mehr. Das
Licht über der Eingangstür brannte nicht, aber durch die Fenster drang
schwaches Licht. Wahrscheinlich die Nachtbeleuchtung von Halle und Treppe, die Allmen
inzwischen ja kannte.
Er fuhr ein paar Häuser weiter und wendete in einer
Einfahrt. Dann fuhr er zurück und ließ den Wagen gegenüber dem nächsten
Grundstück stehen. Er wartete ein paar Minuten, stieg aus und ging an der Hecke
entlang zum Tor.
Schon von weitem erkannte er die Stelle,
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