Suter, Martin
den Schlüsselbund aus der Handtasche.
Allmen steckte das Notizbuch ein und schlenderte an ihr
vorbei. »Danke und auf Wiedersehen.«
Carlos hatte im Schwedenofen Feuer gemacht und einen der
Ledersessel näher gerückt. Allmen saß in eine Decke gehüllt und zitterte.
Carlos kauerte neben ihm und hielt eine Tasse mit einer dampfenden Flüssigkeit
in der Hand.
»Trinken Sie, solange es heiß ist, Don John«, sagte er.
Allmen streckte die Hand danach aus, aber sie zitterte zu
stark. Carlos führte ihm die Tasse an die Lippen. Jetzt trank Allmen in
kleinen, vorsichtigen Schlucken.
Carlos hatte für diesen Grog etwas von seinem
zwanzigjährigen guatemaltekischen Rum geopfert, den er vor Jahren zum
Geburtstag geschenkt bekommen und nie geöffnet hatte. So besorgt war er über
Allmens Zustand.
Dieser war etwas früher als sonst nach Hause gekommen,
bleich und wortkarg. »Todo bien, Don John,
alles in Ordnung?«, hatte sich Carlos erkundigt.
Allmen hatte genickt. Und aus dem Nicken war ein
unkontrollierbares Zittern geworden. Seither saß er da und ließ sich kein Wort
über die Gründe seines Zustands entlocken.
Aber der Grog und das Feuer und vielleicht auch der
Zuspruch begannen, Wirkung zu zeigen. Allmen entspannte sich. Das Zittern
zeigte sich nur noch in kurzen Schüben mit immer größeren Abständen.
Als es sich endlich ganz gelegt und Allmen den Grog
getrunken hatte, bot er Carlos den zweiten Sessel an.
»Ich stehe lieber, Don John.«
Allmen hatte es aufgegeben, sich Carlos' Unterwürfigkeit
zu widersetzen. Er hatte mit der Zeit verstanden, dass Carlos sich wohl fühlte
in dieser Rolle. Er war sich sogar fast sicher, dass es ihm ein Gefühl der
Überlegenheit verlieh. Aber für das, was er vorhatte, konnte Carlos nicht neben
ihm stehen wie ein Lakai. »Setzen Sie sich!«, befahl er.
Carlos tat es mit einem gehorsamen »muchas
gracias«.
»Carlos«, begann er.
»Que manda?, was befehlen Sie?«, sagte Carlos.
Auch das eine guatemaltekische Redensart, die Allmen am Anfang irritiert hatte
und die er längst als Floskel erkannt und akzeptiert hatte.
»Carlos ...« Allmen suchte nach einem geeigneten
Einstieg. Ihre Beziehung war immer eine respektvoll distanzierte gewesen.
Obwohl sie seit Jahren unter einem Dach lebten, war nie eine Freundschaft
zwischen ihnen entstanden. Eine Komplizenschaft schon. Aber keine Freundschaft.
Carlos besaß ein ausgeprägtes Gespür für die Distanz, die physische wie die
emotionale, die seiner Meinung nach zwischen ihnen geboten war. Wenn Allmen sie
unterschritt, wusste Carlos sie sofort wiederherzustellen. Diesmal - zum ersten
Mal - ließ er es geschehen.
»Carlos, ich muss Ihnen etwas erzählen.« Carlos nickte und
wartete.
Und Allmen erzählte ihm von seinem Besuch bei Jack Tanner
und dem Zustand, in dem er ihn angetroffen hatte, und von seiner unüberlegten
Flucht. Kein Detail ließ er aus.
Carlos hatte aufmerksam zugehört. Als Allmen geendet
hatte, stand er auf. »Aborita regreso, bin sofort
zurück.«
Allmen hörte ihn die Treppe hinaufgehen und kurz darauf
wieder zurückkommen. Er hielt ein Klarsichtmäppchen mit ein paar Papieren in
der Hand, setzte sich und reichte Allmen ein Blatt.
Es trug den Briefkopf der St. Galler Kantonspolizei und
zeigte die fünf Libellenschalen, alle als professionelle Studioaufnahmen.
Darunter stand ein Text, aus dem hervorging, dass es sich um die berühmtesten
der Stücke handelte, die vor bald zehn Jahren aus einer Ausstellung von
Galle-Gläsern gestohlen worden waren. Sie waren Leihgaben eines privaten
Sammlers.
Ihr Wert wurde auf mehrere Millionen Franken geschätzt.
Für Informationen, die zu ihrer Auffindung führten, hatte
die Versicherung eine Belohnung von vierhunderttausend Franken ausgesetzt.
Allmen sah vom Blatt auf und begegnete Carlos' prüfendem
Blick. »Das wusste ich nicht«, murmelte er.
Carlos entgegnete nichts.
»Wo haben Sie sie?«
»Wenn Sie sie brauchen, Don John, dann hole ich sie.«
Er erwachte kurz nach vier Uhr aus einem unruhigen
Schlaf. Vergeblich versuchte er, wieder einzudösen, immer tauchte das Bild von
Jack Tanner aus dem Dunkel auf.
Hatte ihn jemand gefunden? Oder saß er immer noch vor
seinem Schreibtisch wie eine übertriebene Geisterbahnfigur?
Wenn es ihm gelang, Tanner aus seinen Gedanken zu
vertreiben, dann stellten sich die Libellen ein. Waren sie nun echt, oder waren
es Fälschungen? Wenn sie echt waren, weshalb gab es dann zwei von der ersten?
Kurz nach fünf hörte er
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