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Suter, Martin

Suter, Martin

Titel: Suter, Martin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allmen und die Libellen
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Noten.
    Dörig sagte: »Zwölftausendvierhundertfünfundfünfzig.«
    »Haben wir noch etwas im Haus, Carlos?«, erkundigte sich Allmen
obenhin.
    Carlos ging in die Küche und kam mit den beiden
Tausendern zurück, die ihm Allmen ins Haushaltsbuch gesteckt hatte. Allmen
legte sie auf die reglos ausgestreckte Hand.
    Dörig wartete.
    »Der Rest folgt dieser Tage«, sagte Allmen mit fester
Stimme.
    Dörig drehte die Hand um neunzig Grad. Die Scheine fielen
zu Boden. »Ein Dörig lässt sich nicht abspeisen«, sagte er ruhig und drohend.
Dann stellte er seinen rechten Absatz auf Allmens Rist und verlagerte sein
Gewicht darauf.
    Allmen schrie auf.
    »Donnerstag. Gleiche Zeit. Gleicher Ort. Sonst...«
    Dörig ging auf die Tür zu und blieb davor stehen.
    Carlos verstand und hielt sie ihm auf. Dörig steckte ihm
ein Trinkgeld von zehn Rappen zu.
    Carlos schloss die Tür hinter ihm, warf die Münze in den
Papierkorb neben der Garderobe und bückte sich, um die Noten vom Boden zu
klauben. Allmen hüpfte auf einem Fuß und rieb sich den anderen. »Ein Dörig!«,
murmelte er immer wieder verächtlich. »Ein Dörig!«
     
    Es geschah nicht off, dass Allmen sich von einem Buch
nicht ablenken ließ. Seine Lesegier - da machte er sich nichts vor - war schon
immer seine Methode gewesen, sich vor dieser Wirklichkeit zu drücken, indem
er sich in einer anderen verschanzte.
    Aber diesmal hielt die Schanze nicht stand. Er las Balzac, Die Frau von dreißig Jahren, einen Autor, dem es sonst unter
Garantie gelang, ihn in eine andere Welt zu entführen. Doch auch Balzac gelang
es heute nicht, die Bilder dieses Tages in ihre Schranken zu verweisen.
    Immer wieder schlich sich Joelle zwischen die Zeilen.
Exaltiert und dekadent im shaparoa, erschöpft und anlehnungsbedürftig als
Pyjamamädchen, verkatert, nackt und verbraucht im grellen Licht des späten
Vormittags, abweisend und süffisant bei seiner Verabschiedung. Auch die Libellenschalen
tauchten immer wieder auf. In ihrem schönsten Licht in der Vitrine und als
unförmige, schwarze Handtuchballen in der Thujahecke.
    Auch das Bild von Klaus Hirt stellte sich ihm immer
wieder in den Weg. Wie er am Türrahmen vorbeilinste. Was war das für ein Blick
gewesen? Prüfend? Verächtlich? Misstrauisch? Wissend?
    Und wenn es ihm endlich gelungen war, diese Bilder zu
vertreiben, dann drängte sich zwischen die eleganten und geschliffenen Grafen
und Marquisen Balzacs grobschlächtig und ordinär Dörig. Ein Dörig!
    Der Kerl war am schwersten zu verdrängen. Durch den
dumpfen Schmerz des Blutergusses auf seinem Rist war er allgegenwärtig. Allmen
hatte den Schuh ausgezogen und den Fuß hochgelagert und hoffte auf die Wirkung
der Salbe, die ihm Carlos verordnet hatte. Sie kam aus einer brüchigen
Blechtube mit der Aufschrift »Milagro«, Wunder.
    Allmen gab auf. Er legte das Buch beiseite und humpelte
vor die Glaswand zum rückwärtigen Garten, von der aus man das düstere Dickicht
hinter dem Gewächshaus sah, wo sich manchmal der Stadtfuchs zeigte.
    Wenn er ehrlich mit sich war - ein sehr seltenes Ereignis
in Allmens Leben -, dann musste er zugeben, dass er ziemlich am Ende war.
Nein, nicht ziemlich. Er war am Ende, Punkt.
    Er lebte von der Hand in den Mund. Die oberflächliche
Erledigung seiner allerdringendsten finanziellen Pendenzen täuschte nicht
einmal mehr ihn darüber hinweg, dass sich dahinter etwas aufgetürmt hatte, das
eher früher als später über ihm zusammenstürzen würde. Der goodwill, den er
sich in all den Jahren der Verschwendung erworben hatte, würde bald
aufgebraucht sein. All die gutmütigen Gläubiger würden, einer nach dem
anderen, eine ganze Schar Dörigs, erst seine Gedanken und Träume, dann seine
Wirklichkeit beherrschen. Nichts würde ihn retten.
    Außer einem Befreiungsschlag.
    Seine Eltern hatten Carlos im Alter von vier Jahren als
Schuhputzer auf die Straße geschickt. Sie hatten ihm eine grobgezimmerte,
schwarzgestrichene Schuhputzkiste gekauft. Am Anfang war es ganz gut gegangen.
Er war zwar noch kein sehr geschickter Schuhputzer, aber so klein und
niedlich, dass er im Kampf um die wenigen Touristen, die nicht Sneakers,
sondern Lederschuhe trugen, oft den Sieg davontrug. Manche gaben ihm zehn
anstatt des marktüblichen einen Quetzals. Es kam auch vor, dass sie ihm bei
einer Garküche am Straßenrand etwas zu essen kauften.
    Aber als er größer wurde, musste er sich handwerklich
hervortun. Er arbeitete daran, der beste Schuhputzer des Dorfes zu werden,

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