Svantevit - historischer Roman (German Edition)
sich beide erhoben hatten, sahen sie den dichten Menschenpulk, der vor ihnen zum Stehen gekommen war. Dort würden sie nicht durchkommen, zumal in regelmäßigen Abständen Reiter standen, die darauf achteten, dass niemand von hinten nachdrückte. Es war wohl doch keine so gute Idee gewesen, sich hier auf eigene Faust durchschlagen zu wollen, dachte Radik. Sein Vater stand jetzt mit Sicherheit in der ersten Reihe und seine kleine Schwester hatte den besten Beobachtungsplatz überhaupt, wobei nicht ganz klar war, ob sie über all das erfreut sein wird, was es noch zu sehen geben würde.
"Nach vorne kommen wir nicht. Wir müssen irgendwie einen höheren Platz finden."
"Frag doch mal den Herrn der Peitsche, ob er dir seinen Posten überlässt", gab Ferok zurück.
Beide schauten sich nach allen Seiten um.
Zu ihrer linken Seite befand sich ein hölzerner Anbau, der an der Innenseite des Walls entlanglief. Er bestand aus einfachen nebeneinander gereihten kleinen Räumen, die im Falle der Belagerung der Burg als Behausung für schutzsuchende Menschen und die Verteidiger dienen sollten. Vor diesen Notquartieren, die auf Pfählen etwas mehr als mannshoch errichtet waren, verlief der Wehrgang aus Holzbohlen. Dort hinauf gelangte man über eine Leiter, die am Beginn dieses Ganges stand.
Radik und Ferok sahen sich an. Beide hatten den gleichen Gedanken. Von dort oben ließ sich fast der gesamte Burghof gut überschauen. Die Räume waren wohl leer, allerdings standen auf dem Gang Soldaten. Einer saß direkt neben der Leiter und machte nicht den Eindruck, dass er sich dort heute noch wegbewegen wollte. Also war der einfachste Weg nicht gangbar.
Die beiden Jungen gingen an der Leiter vorbei und suchten nach einer anderen Möglichkeit. Weiter hinten stand ein Soldat, der gelangweilt in die Gegend guckte. Er würde natürlich sofort bemerken, wenn jemand versuchen sollte, hier hinauf zu klettern.
"Wir müssen warten, bis der Priester mit seiner Vorstellung beginnt. Vielleicht werden die Soldaten dann woandershin abgezogen."
"Das glaube ich zwar nicht, aber uns bleibt wohl nichts anderes übrig", meinte Radik enttäuscht.
Da begann der Soldat oben mit den Armen zu fuchteln. Damit meinte er anscheinend jemand aus der Menschenmenge, vielleicht einen anderen Soldaten. Er legte die Hände an den Mund und brüllte etwas, aber sein Kopfschütteln und deutlich vernehmbares Fluchen zeigten, dass der andere ihn offenbar nicht verstand. Schließlich lief er den Gang entlang zur Leiter, trat dem dort sitzenden Soldaten gegen die Beine, die dieser wegen seines ausgeprägten Dämmerzustandes nicht schnell genug zur Seite nehmen konnte, und verschwand.
"Jetzt oder nie!"
Radik prüfte durch Ausstrecken des Armes die Höhe der Bohlen. Er konnte sie zwar erreichen, aber sie waren zu dick, um sie mit der Hand zu umschließen. Allein würde er sich dort nicht hochziehen können. Mit Ferok Hilfe könnte es gelingen; er war aber nicht sicher, ob er es anschließend schaffen würde, Ferok heraufzuhelfen. Auf jeden Fall müsste es schnell und leise von statten gehen, damit niemand aufmerksam werden würde.
"Du zuerst oder ich?", fragte Ferok während er ein nicht allzu großes Fass heranrollte, das zwischen mehreren Säcken unter dem schützenden Holzdach, welches der Anbau bot, gelegen hatte.
Er setzte das Fass auf den Boden, der Deckel schien stabil, dennoch war es ratsam, sich auf den Rand zu stellen. Radik schaute sich noch einmal um.
"Los!"
Auf das Fass springen, die Ellenbogen auf die Bohlen stützen, etwas hochziehen, ein Bein hochschwingen, hinaufdrücken und geduckt in die nächste Tür laufen. Alles ging so rasch, als hätten die beiden dafür lange geübt.
Der Raum war völlig leer, an der Wand befand sich eine Bank. Die beiden Jungen stellten sich ein Stück hinter die Tür. Von hier konnten sie auf den Platz vor dem Tempel sehen, waren aber wegen der Dunkelheit des Raumes von draußen nicht zu erkennen. Sie mussten das freudige Lachen, das ihnen jetzt ankommen wollte, tunlichst unterdrücken, um sich nicht zu verraten.
Bisher wurde nichts Aufregendes geboten. Die Menschen umstanden den Platz von allen Seiten. Im Westen der Burg, von Radiks Blickpunkt links, befand sich der Tempel. Auf der rechten Seite hielten die Gardisten eine Gasse frei, die zu den Ställen der Tempelgarde führte. Im Norden konnte man das Meer sehen, das sich am Horizont mit dem Himmel vereinte.
Dann begannen die Menschen plötzlich lebhafter zu sprechen,
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