Sweetgrass - das Herz der Erde
doch wo sie gestanden hat, lag diese Brosche. Mama, ich schwöre dir, dass sie vorher nicht da war!”
Mama June nahm die Brosche vorsichtig in die Hand und betrachtete sie aufmerksam von allen Seiten. Das Stück war exzellent gearbeitet, eindeutig ein feines Beispiel für die Handwerkskunst des 18. Jahrhunderts. In der Mitte der Brosche befand sich eine Elfenbeinminiatur hinter Glas, eine gemalte Ansicht des Hauses von Sweetgrass in ländlicher Umgebung. Auf der Rückseite waren die Initialen BB kunstvoll eingraviert.
“Ich habe dieses Schmuckstück noch nie gesehen, nicht einmal davon gehört. Und ich hätte doch eigentlich davon wissen müssen.” Sie gab Nan die Brosche zurück. “Das ist wirklich etwas sehr Besonderes. Sie muss sie hier für dich zurückgelassen haben.”
Nan machte ein nachdenkliches Gesicht und sah sich die Brosche noch einmal genauer an. “Wieso ich?”, fragte sie leise.
Mama June hatte den gleichen Gedanken. “Diese Frage musst du Beatrice stellen. Aber ich könnte mir vorstellen, dass sie der Ansicht war, dass du sie verdient hast. Oder dass du sie vielleicht brauchst. Was meinst du?”
Nan schloss ihre Hand über der Brosche und legte sie an ihre Wange. Plötzlich schüttelte sie so heftig den Kopf, dass Mama June aufmerksam wurde.
“Mama, ich fühle mich so verloren”, stieß sie verzweifelt hervor.
“Nan!”
“Ich bin jetzt fast vierzig und habe keine Ahnung, wer ich überhaupt bin. Und ich bezweifle, dass ich das je wusste.” Ein Schatten huschte über Nans Gesicht, und Tränen schimmerten in ihren Augen.
“Aber was ist denn los, Herzchen?”, fragte Mama June und legte ihre Hand tröstend auf Nans Knie.
Nan trocknete sich das Gesicht mit der Bettdecke und ließ sich in die Kissen zurücksinken. “Ich war so damit beschäftigt, Hanks Frau und die Mutter der Jungs zu sein, herumzufahren, zu kochen oder dies oder das für sie zu tun, dass ich völlig vergessen habe, was
ich
eigentlich will. Und jetzt fühle ich mich … so leer.”
“Das ist ganz normal an so einem Punkt im Leben”, antwortete Mama June und versuchte, ihre Tochter zu trösten. “Deine Kinder sind fast erwachsen und brauchen dich nicht mehr so wie früher. Sie wollen ihr eigenes Leben leben. Das ist eine Übergangsphase.”
“Es geht nicht nur um die Jungs … Ich weiß nicht, ob ich das erklären kann.”
“Versuch’s einfach. Ich höre dir zu.”
Nan atmete tief durch. “Weißt du, als Daddy krank wurde, war das wie eine Alarmglocke. Als ich in den letzten Monaten hier war und euch mit Daddy geholfen habe, erinnerte ich mich daran, wer ich einmal war, als ich noch hier gewohnt habe. Wie es war zwischen uns. Teil davon war es, hier zu sein. Wir sind uns als Familie wieder so nahegekommen. Das bedeutet mir eine ganze Menge. Und ich habe gesehen, wie du Tag für Tag bei Daddy gesessen und mit ihm geredet hast. Nach all den Jahren empfindet ihr noch so viel füreinander, und ich … ich habe das nicht mit Hank.”
“Aber ihr habt doch immer so eine gute Ehe geführt. Eine Bilderbuchfamilie.”
“Ich weiß, dass es so ausgesehen hat, weil ich nur
dafür
hart gearbeitet habe. Ich hatte diese Vorstellung im Kopf – davon, wie es bei uns gewesen ist, bevor Hamlin starb. In meiner Erinnerung war alles perfekt. Du warst perfekt. Doch das ist alles mit Hamlin gestorben. Alles ist kaputtgegangen. Und dieses Leben habe ich so sehr vermisst. Unsere Familie. Also dachte ich – oder habe ich versucht, die perfekte Mutter und Ehefrau zu sein. Nicht nur für mich, sondern auch für dich.”
“Ach, Nan …”
“Ich habe es nicht geschafft”, brach es aus ihr heraus. “Ich habe in allem versagt.”
“Nan, das konntest du nicht schaffen, weil es gar keine Perfektion gibt! Das kommt im wirklichen Leben nicht vor. Wir waren alles andere als perfekt, egal wie sehr man die Vergangenheit verklärt. Ich am allerwenigsten. Ach, Nan, da ist so vieles, was du nicht weißt. Wir waren einfach nur eine gewöhnliche glückliche Familie. Und dann ist es über uns hereingebrochen. Wenn wir jetzt auf die guten Zeiten zurückschauen, bekommen sie einen Heiligenschein. Ich weiß das nur zu gut, mir ging es genauso. In der Erinnerung erscheint alles strahlender, als es tatsächlich war. Vielleicht mussten wir das so haben, um besser durch die schlechten Zeiten zu kommen. Doch du kannst mein Leben nicht für mich leben, Nan. Du musst dein eigenes Leben leben.”
Nan wischte sich die Tränen vom Gesicht und setzte
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